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Die Zweierbeziehung

Die Zweierbeziehung

Titel: Die Zweierbeziehung
Autoren: Jürg Willi
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Die Partner erlauben es einander, in verteilten Rollen die ersehnte Liebe zu leben und gleichzeitig unter Kontrolle zu halten.
    Weshalb richtet eine Frau ihre Sehnsucht nach absoluter Liebe gerade auf einen Mann, der ihre Liebe schroff zurückweist? Die Frau glaubt, hinter der Abwehrfassade des Mannes eine zarte Sehnsucht nach Liebe zu spüren, die er sich jedoch nicht einzugestehen wagt. Trotz Abweisung zeigen diese Männer oft einen hohen Liebesanspruch in dem Moment, in dem die Frau die Liebe aufgeben will. Will die Frau die Beziehung aufgeben, so wirft der Mann ihr wütend Egoismus vor. Es liegt ihm offenbar mehr an der Beziehung, als er ihr bisher eingestanden hat.
    Die Frau zeigt das Phänomen der projektiven Identifikation: Sie ist überzeugt, besser als der Mann zu wissen, dass seine Liebesabwehr ein Schutzschild bildet. Sie will ihm zeigen, was wahre Liebe ist. Der schwierige Mann hindert sie, sich mit der eigenen Entwicklung zu befassen. Die Frau erkennt eventuell die Irrationalität ihrer Liebesbemühungen, sie kann aber einer Beziehung ohne die Irrationalität ihrer Liebesbemühungen nichts abgewinnen. Jede andere Form von Beziehung ist ihr zu langweilig, weil zu banal. Nicht selten geht es Frauen, die daran hängen, dem Mann ihre absolute Liebe zu zeigen, um die Heilung selbsterfahrener tiefer Verletzungen ihrer Liebe in der Kindheit. Im Spenden einer bedingungslosen Liebe versuchen sie die innere Leere der eigenen Liebeserfahrung zu füllen und die Wunden der ersten Verletzungen zu heilen.
     
    Fallbeispiel der Sehnsucht nach der absoluten Liebe:
    Marlis, eine 33-jährige Akademikerin, meldet sich zur Psychotherapie wegen ihrer Schwierigkeiten in der Beziehung zu ihrem fünf Jahre älteren Freund Armin, mit dem sie seit zwei Jahren eine schwierige Liebesbeziehung unterhält. Sie kann selbst nicht recht verstehen, weshalb sie ihn so sehr liebt, obwohl er mit ihr grob, schnoddrig und rüpelhaft umgeht, sich kaum um sie kümmert, dem persönlichen Gespräch ausweicht und ihr angeblich wegen Überarbeitung nur wenige Stunden über das Wochenende zur Verfügung stellen kann. Dennoch behauptet er, sie sei seine große Liebe. Marlis kann sich nicht von ihm trennen, weil sie mit ihm Zustände höchster Harmonie und Verbundenheit erlebt, wie sie es noch nie erfahren hatte. Trotzdem haben sie sich bisher nicht für ein Zusammenleben entschließen können, obwohl er immer wieder davon spricht, mit ihr eine Familie gründen zu wollen. Aus seinem bisherigen Verhalten kann man keine Hinweise gewinnen, dass er sich auch um Kinder kümmern würde. Er hat eine rechtskonservative politische Einstellung, der entsprechend die Frau an den Herd gehöre, eine Meinung, der Marlis entschieden widerspricht. Armin hatte bisher noch nie eine längerdauernde Beziehung unterhalten. Von seiner letzten Freundin war er verlassen worden. Er scheint dieser nachzutrauern, was Marlis außerordentlich verletzt. Sie könne keine sexuellen Beziehungen mit ihm haben, solange er innerlich nicht von dieser ehemaligen Freundin losgelassen habe.
    Marlis hatte zu Armin eine für sie selbst schwerverständliche Beziehung. Sie sind einander am nächsten, wenn sie sich schweigend in die Augen sehen. Sie hat dann das Gefühl, ihm direkt in die Seele blicken zu können. Es entsteht ein Zustand völligen Einsseins, einer nahtlosen Verschmelzung. Sie erlebt dann mit ihm Momente höchsten Glücks, ein Zustand vollkommener Übereinstimmung, ein Schwingen auf derselben Wellenlänge, ein Aufgehobensein im anderen, ein Aufgehen in absoluter Harmonie. Sie glaubt, den innersten Kern des Freundes zu kennen, seine Regungen zu spüren, sodass sich ein Gespräch als überflüssig erübrigt. Es handelt sich um eine Erfahrung, die sie noch mit keinem anderen Menschen hatte. Diese Zustände der Verschmelzung dauern jeweils wenige Stunden. Mehr würde sie gar nicht ertragen. Sie ist überzeugt, dass beide schon in einem früheren Leben füreinander bestimmt gewesen waren. Sie kann diesen Zustand absoluter Harmonie nicht richtig beschreiben und merkt, dass diese Zustände des Einswerdens gefährlich sind. Die geringste Disharmonie genügt dann, dass ihr Freund von einem maßlosen Wutanfall erfasst wird.
    Nun ergab sich, dass auch Armin wegen dieser Zustände vollkommener Harmonie von ihr nicht loskommt. Sein abweisendes, schroffes Verhalten dient ihm dazu, den Abstand zu Marlis immer wieder herzustellen. In einem der seltenen Momente eines Gesprächs äußerte er, er
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