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Die Zwanziger Jahre (German Edition)

Die Zwanziger Jahre (German Edition)

Titel: Die Zwanziger Jahre (German Edition)
Autoren: Theo Zwanziger
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Rückschau ein Fehler war. Wasser, Müll, Abwasser, Straßenbau, Sportplatz; Dorfgemeinschaftshaus, es sollte alles gleichzeitig gemacht werden. Meine Aufgabe war der Aufbau von Zweckverbänden im Bereich Wasser und Abwasserbeseitigung. Wir wollten größere Einheiten schaffen wie im Westen, damit nicht jede Gemeinde auf sich allein gestellt ist.
    Bisweilen habe ich aber auch selbst Stasi-Fälle bearbeitet, Akten studiert und viele Gespräche geführt. Ich stellte fest, dass über manche Leute Akten geführt wurden, denen man nichts vorwerfen konnte. Und es konnte Jahre dauern, bis sie ihre Rehabilitierung erstritten hatten.
    Ich habe gelernt, dass es keinen Sinn macht, Menschen nur nach Akten zu beurteilen. Man muss begreifen, in welch einer Situation die Menschen in der DDR unter der ständigen Beobachtung durch die Stasi lebten. Die Gesetze waren kompliziert, und es gab einfach zu wenig Richter, die mit dem nötigen Feingefühl entscheiden konnten. Die ostdeutschen Richter hatten ja keinerlei Erfahrung, wie im Westen das Verhältnis zwischen Bürger und Staat geregelt war.
    Und die Aufbauhilfe aus dem Westen? Nun ja, wir haben geholfen, aber nicht unbedingt immer die besten Leute geschickt, sondern häufig die, die man bei uns nicht mehr gebrauchen konnte. Als Richter kann man eben so oder so arbeiten. Manche schaffen Dinge weg und treffen Entscheidungen, andere brauchen länger. Ich erinnere mich an einen Richter aus dem Hessischen, der bestenfalls alle vierzehn Tage einen Fall bearbeitete und einfach nicht zur Entscheidung kam. Richterliche Unabhängigkeit kann auch ihre Schattenseiten haben.
    Die Tätigkeit als Anwalt erlaubte mir Einblicke in einen Bereich, den ich bis dahin noch nicht kannte. Ich lernte unter anderem, wie wichtig es für einen Selbstständigen ist, Kosten und Einnahmen im Lot zu halten. Auch im Sport habe ich viele Kontakte geknüpft, zum Fußballklub Carl Zeiss Jena und zu vielen anderen, weil ich mir inzwischen auch in meiner Funktionärstätigkeit im Fußball einen Namen gemacht hatte.
    Viele Auffassungen der »Wessis« über die »Ossis« sind falsch, verletzend und beleidigend. Die meisten sind fleißige Menschen, die sich daran gewöhnen mussten, Freiheit und Verantwortung in Einklang zu bringen. Vor allem die Frauen haben mich mit ihrem Mut und ihrer Tatkraft stark beeindruckt.
    Es gab natürlich auch viele Menschen, die sich zurückhielten, die sich fragten, was jetzt auf sie zukomme. Arbeitslosigkeit kannte man bis dahin nicht. Die meisten Wohnungen waren klein, nach unseren Maßstäben für kaum mehr als zwei Menschen geeignet, aber sie lebten dort zu viert oder fünft. Und wenn davon drei arbeitslos waren, war das schon sehr belastend.
    Wir in Westdeutschland müssen erkennen, dass wir den Menschen aus der ehemaligen DDR etwas schulden. Sie können nichts dafür, dass sie in einer solchen Diktatur lebten. Sie haben uns mit der Wiedervereinigung eine Menge gegeben, auch wenn die blühenden Landschaften, die Helmut Kohl versprochen hatte, etwas länger auf sich warten ließen.
    Über die Erfahrungen, die ich damals in Deutschlands Osten gemacht habe, könnte ich ein eigenes Buch schreiben.

4.
    »Meine Entscheidung ist gefallen«:
    Der Vogel-Sturz ↵
    Als ich mich anschickte, in der Politik Karriere zu machen, dachte ich noch lange nicht an eine zukünftige Laufbahn als Fußball-Funktionär. Doch viele Erfahrungen aus dieser Zeit, positive wie negative, haben mir später geholfen, auch auf der Bühne des Sports zu bestehen.
    Im Frühjahr 1970 wurde im Gasthaus Neu zu Altendiez ein Ortsverband der CDU gegründet. Unter den dreiundzwanzig Anwesenden, die an diesem Abend einen Aufnahmeantrag unterschrieben, waren auch meine Frau Inge und ich. Kurioserweise fand sich zunächst niemand, der die Führung des Ortsverbands übernehmen wollte. Die Jungen trauten sich diese Aufgabe nicht zu, und die Alten erklärten, sie wollten »nie wieder in einer Partei« sein. Die Schrecken der Nazizeit saßen auch ein Vierteljahrhundert nach Kriegsende noch tief. Schließlich übernahm Hermann Fassbender, ein Landwirt aus Altendiez, den Vorsitz, eine gute Wahl, wie sich erweisen sollte. 1974 feierten wir bei der Kommunalwahl einen großen Erfolg, als wir die dicke absolute Mehrheit der SPD brachen.
    Eigentlich ist die Region, der ich entstamme, eine »rote« Ecke, ein evangelisch geprägtes Arbeitergebiet. Bis Ende der Sechzigerjahre war Altendiez nicht zuletzt dank des Steinbruchs am rechten Lahnufer
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