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Die Zwanziger Jahre (German Edition)

Die Zwanziger Jahre (German Edition)

Titel: Die Zwanziger Jahre (German Edition)
Autoren: Theo Zwanziger
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sind dann auch die entsprechenden Politiker darauf angesprungen und haben eine Frage von nationalem Interesse daraus gemacht. Soll der Bundestrainer zu Özil sagen, wenn du die Hymne nicht mitsingst, stelle ich dich nicht mehr auf? Mein Vorgänger Gerhard Mayer-Vorfelder hält das offenbar für möglich und richtig. Ich nicht. Unsere Nationalspieler sollen Fußball spielen. Wie sie spielen, ist nicht abhängig davon, ob sie vorher die Hymne singen, grölen oder nur so tun, als ob.
    Wir leben in einem freien Land, und unsere Hymne handelt zu Recht von der Freiheit. Wie können wir aber von der Freiheit singen, wenn wir andere zum Singen zwingen wollen und ihnen dadurch ein Stück Freiheit nehmen?
    Ich weiß sehr wohl aus vielen Briefen und Gesprächen, dass es in Deutschland zahlreiche Menschen gibt, die mehr Wert auf diese Symbole legen als ich. Aber eine tolerante und liberale Gesellschaft sollte respektieren, dass sich viele schwertun mit nationalen Symbolen. Angesichts der jüngeren deutschen Geschichte ist es nicht schwer, sich vorzustellen, dass dies sehr persönliche und familiäre Gründe haben kann. Auch diese Haltung verdient Respekt. Schließlich singen wir den schönen Text immer noch zur alten Melodie.
    Im Land des Europameisters stellt sich diese Diskussion übrigens überhaupt nicht, denn die spanische Nationalhymne hat bekanntlich keinen Text. Die Spanier schaffen es trotzdem, ihr andächtig und respektvoll zu lauschen und hinterher ihre Spiele zu gewinnen. Obwohl sie nicht gesungen haben.
    Auch in der Hymnenfrage muss man feststellen, dass der Sport immer wieder zu politischen Zwecken instrumentalisiert wird, nicht selten genau von denen, die klare politische Stellungnahmen, dort, wo sie angebracht wären, plötzlich heftig scheuen. Vor der Europameisterschaft gab es in Deutschland intensive Diskussionen über die politische Situation in der Ukraine. Von verschiedenen Seiten wurde sogar gefordert, man solle die Spiele in diesem autoritär regierten Land boykottieren. Davon halte ich nichts; damit haben wir in der Vergangenheit beispielsweise bei den Olympischen Spielen 1980 in Moskau überhaupt nichts erreicht. Ein Boykott ist reiner Populismus. Nein, wir müssen dort hingehen, wo Unrecht an der Tagesordnung ist, wo Unschuldige oder Missliebige eingesperrt, gefoltert oder gar getötet werden, und dort für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie eintreten.
    Mein Nachfolger Wolfgang Niersbach hat zu Recht darauf verwiesen, dass die Europameisterschaft als Medienereignis die Chance bot, Missstände in der Ukraine anzuprangern. Leider haben der DFB und die Uefa diese Chance nicht so genutzt, wie es wünschenswert gewesen wäre, obwohl es genügend Felder gab, auf denen sie klare Position beziehen konnten.
    Der Besuch in Auschwitz, an dem neben einigen Delegationsmitgliedern auch Miroslav Klose, Lukas Podolski und Philipp Lahm beteiligt waren, war eine gute Sache, daran konnte wohl keiner etwas aussetzen. Wer beanstanden will, dass nicht, wie bei den Engländern, die ganze Mannschaft mit zu der Gedenkstätte gefahren ist, der sucht wirklich in den Krümeln; es gibt für solche symbolischen Gesten keine festen Regeln.
    Trotzdem beschleicht mich das Gefühl, für manche sei der Abstecher nach Auschwitz nicht mehr als eine Pflichtübung gewesen, weil so gar nichts nachkam. In der Gedenkstätte hat Wolfgang Niersbach aus der großartigen Rede zitiert, die der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1985 zum 40. Jahrestag des Kriegsendes im Bundestag gehalten hat: »Wer die Augen vor der Vergangenheit verschließt, wird blind für die Gegenwart.« Wenn man sich Richard von Weizsäcker zum Maßstab nimmt, dann legt man die Messlatte hoch, vielleicht zu hoch, wenn man doch vor allem die Pflege des sogenannten Kerngeschäfts im Auge hat.
    In der Ukraine hätte es genug Möglichkeiten gegeben, der Gegenwart ins Auge zu sehen. Im Gegensatz zu Polen, dem Land, in dem die Gedenkstätte von Auschwitz steht und das sich mit seiner freiheitlichen Tradition zu einer stabilen Demokratie entwickelt hat, handelt es sich bei der Ukraine um einen autoritär regierten Staat, in dem, soweit wir wissen, auch Menschenrechte verletzt werden.
    Natürlich können wir Fußballer den Lauf der Geschichte nicht so beeinflussen wie mächtige Politiker, aber wir können Zeichen setzen und mit Gesten zeigen, dass wir nicht auf der Seite der Diktatoren und Menschenrechtsverletzer stehen. Es wäre nicht schwer gewesen, in der Ukraine,
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