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Die Zuflucht

Die Zuflucht

Titel: Die Zuflucht
Autoren: Ann Aguirre
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ich es geschafft und lehnte mich zurück, hasste im Geheimen Mrs. James, weil sie mich in diese unangenehme Lage gebracht hatte. In sechs Monaten würde all das ein Ende haben. In sechs Monaten war ich erwachsen. Das tat besonders weh, denn nach den Regeln, die Unten galten, war ich schon längst volljährig. Es war einfach nicht fair. Unten war ich frei gewesen, zu tun und zu lassen, was ich wollte. Aber als wir die Sicherheit von Erlösung erreicht hatten, von der wir die ganze Zeit geträumt hatten, war mir diese Freiheit wieder genommen worden.
    Als ich mich einmal deswegen bei Draufgänger beschwerte, schüttelte er nur den Kopf und lachte. » Das ist das Leben, Mädchen«, sagte er.
    Die Jungs waren alt genug, nicht zur Schule zu gehen, aber sie kamen trotzdem. Vielleicht hörten sie lieber Mrs. James zu, als den ganzen Tag zu arbeiten. So mussten sie wenigstens erst am Nachmittag schuften. Bei Pirscher hatte ich den Verdacht, dass es außerdem eine Frage des Stolzes war. Er ertrug es nicht, dass Bleich so viel besser lesen konnte als er, und tat alles, um möglichst schnell aufzuholen. Nicht dass die Lehrerin seine Bemühungen belohnt hätte. Sie mochte keinen von uns besonders– jeden aus verschiedenen Gründen.
    Die anderen standen gerade auf, um draußen in der Mittagssonne ihr mitgebrachtes Essen zu verspeisen, als Mrs. James mich zu sich rief. » Zwei, ich würde gern mit dir sprechen.«
    Ich ignorierte die Blicke meiner Mitschüler und das Getuschel und ging nach vorn. » Ja, Sir.«
    Â» Es heißt Ma’am. Nur Männer nennt man Sir.«
    Unten hatte es keine Unterschiede in der Anrede gegeben. Ich fragte mich, ob das nun bedeutete, dass wir in der Enklave unverkrampfter gewesen waren, oder ob es daran gelegen hatte, dass wir nicht so viel Aufmerksamkeit auf Details verwendeten.
    Mrs. James konnte Aufsässigkeit nicht leiden, also hielt ich den Mund und machte mich bereit für eine Standpauke.
    Â» Warum setzt du dich nicht?«
    Ich hatte Hunger und wollte meine Pause nicht damit verbringen, hier herumzusitzen. Aber das war wohl die Strafe für meine Unaufmerksamkeit von vorhin. » Gut, Ma’am.«
    Ich tat ihr den Gefallen und setzte mich auf den Stuhl, der eigens neben ihrem Pult für widerspenstige Schüler wie mich bereitstand. Ich nahm weit öfter dort Platz, als mir lieb war, und das nicht wegen Aufsässigkeit, sondern wegen meines offensichtlichen Desinteresses. Mrs. James wusste, dass ich schon die Tage zählte, bis ich endlich austreten konnte.
    Â» Du bist ein kluges Mädchen, und deine Zukunft könnte so toll aussehen«, erklärte sie. » Ich weiß, du hältst die Schule für Zeitverschwendung, und es tut mir im Herzen weh, wenn ich sehe, dass du nicht einmal versuchst, dich zu bessern.«
    Ich verzog das Gesicht. » Wissen Sie, wie man einen Freak mit bloßen Händen tötet? Können Sie ein Kaninchen häuten und kochen? Wissen Sie, welche Pflanzen man essen kann und welche nicht? Würden Sie es von den Tunneln, in denen ich geboren wurde, auf eigene Faust bis hierher nach Norden schaffen?« Ich kannte die Antwort bereits und schüttelte den Kopf. » In meiner Welt, verehrte Dame, kann ich bereits alles, was man können muss. Und Ihr Ton gefällt mir nicht.«
    Ich wusste, sie würde mich dafür bezahlen lassen. Trotzdem stand ich auf, verließ das Klassenzimmer und ging hinaus in die Sonne. Sie fühlte sich immer noch eigenartig heiß an auf meiner Haut, aber mittlerweile genoss ich das Gefühl. Der Himmel war blau, hohe Wolken hoben sich hell davon ab– kein Regen also. Es hatte eine Weile gedauert, bis ich die Wetteranzeichen deuten konnte: wann die Sonne zu heiß brennen und wann Wasser von oben herabfallen würde.
    Ich beschattete meine Augen und sah Bleich mit Tegan. Sie hatten sich mit ein paar Mädchen von hier angefreundet. Bestimmt waren die Mädchen nett, dachte ich mir. Ich war Doc Tuttle dankbar, weil er Tegan gerettet hatte, aber verloren hatte ich sie dennoch. Alles hatte sich verändert, und wir lebten bei verschiedenen Pflegefamilien.
    Doch Tegan war nicht der erste Verlust in meinem Leben. Vor ihr hatte ich Stein und Fingerhut verloren, und ich vermisste sie. Eine Freundschaft aus Balgzeiten vergaß man nicht, egal wie viel Zeit verging. In der Enklave hatte ich alle Regeln gekannt, aber in Erlösung galt keine einzige
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