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Die zerbrochene Uhr

Titel: Die zerbrochene Uhr
Autoren: Petra Oelker
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ihnen an einem der Tische mit den weißen Tüchern für die feineren Gäste im Bremer Schlüssel niederzulassen. Er bestellte großzügig und teuer. Er wußte ja noch nicht, daß weder Monsieur Curieux noch Monsieur Mosbert, sondern er ganz allein das üppige Mahl bezahlen würde.
     
    Mehr als zweihundert Jungen, nahezu alle Schüler des Johanneums und des Akademischen Gymnasiums, drängelten sich vor dem Hauptportal am Plan. Niklas, er war mal wieder zu spät und den letzten Teil des Weges gerannt, blieb keuchend stehen und wunderte sich. Dafür hatte er sich so beeilt? Warum war die Tür noch nicht geöffnet? Er war sicher, daß es schon etliche Minuten nach ein Uhr war. Die anderen Schüler störte das nicht im mindesten. Keiner kam auf die dumme Idee, gegen die Tür zu hämmern und Einlaß für den Nachmittagsunterricht zu fordern. Die Lehrer würden schon von selbst merken, daß der Pedell seine Pflicht vergessen hatte, wenn sie in ihren leeren Klassen standen.
    Am quirligsten waren die Haufen der jüngeren Schüler aus Oktava, Septima und Sexta. Die der Quinta, Quarta und Tertia teilten sich schon in die Raufbolde und Spaßmacher und die Eifrigen, die die kurze Zeit nutzten, um flink noch einmal in die Bücher zu sehen und Versäumtes nachzuholen. Sekundaner und Primaner bemühten sich im Bewußtsein ihrer Aufgabe als ältere Schüler, Vorbild für die Jüngeren zu sein, zumindest um eine gewisse Ruhe. Sie hatten sich nahe den Schülern des Akademischen Gymnasiums zusammengefunden, die im gebührenden Abstand von den Lateinschülern auf und ab gingen, mit der Würde, die sich für erwachsene Herren von achtzehn und neunzehn Jahren mit Aussicht auf die Aufnahme an eine Universität ziemte.
    Niklas drängelte sich durch die Menge zu den Schülern seiner Klasse.
    »Na, Herrmanns, auch schon da?« Böttcher IV rempelte Niklas freundschaftlich an. »Wenn du mich deinen Aufsatz über die sechste Bitte lesen läßt, damit mir für meinen auch was einfällt, bekommst du dies hier.« Flink nach allen Seiten sehend, zog er ein steifes Stück Papier aus seinem Rock, faltete es mit spitzen Fingern auseinander und präsentierte es Niklas im Schutz seiner halb geöffneten Jacke. »Na? Ist das nichts? Das ist doch mindestens einen Blick auf deinen Aufsatz wert. Oder bist du für so was noch zu klein?«
    Schnell faltete er das Papier wieder zusammen und entzog Niklas den Blick auf eine außerordentlich mangelhaft bekleidete Dame, die ihre üppigen Formen darbot, während sie die Nase in einen Veilchenstrauß steckte und zugleich dem Betrachter kokett entgegenblinzelte. Er wollte es wieder verschwinden lassen, doch zu spät. Jobst Lederer, Schüler der Sekunda, zwar ausgesprochen klein für sein Alter, aber flink und mit Augen wie ein hungriger Falke, hatte das streng verbotene Bild entdeckt und es ihm blitzschnell entrissen. Bevor Böttcher IV ein großes Geschrei beginnen und seine geübten Fäuste einsetzen konnte, sprang Lederer einen Schritt zurück, legte den Finger auf die Lippen und zeigte mit dem Kinn auf Finkmeester, der, in seinen Katechismus vertieft, nahe dem Portal stand. Den Klassenbesten der Tertia anrempeln, eine überschwengliche Entschuldigung brummeln, ihm den gar nicht staubigen Rock abklopfen und dabei das Bildchen in die Tasche praktizieren war Sache einer Sekunde.
    Böttcher IV bedauerte zutiefst den Verlust seines Schatzes, den er nicht gerade billig an der Buchhändlerbude auf der Trostbrücke erstanden hatte, aber er grinste zufrieden. Ein bißchen ärgerte ihn nur, daß er nicht selbst auf diese famose Idee gekommen war. Garantiert würde Finkmeester, mit einem ständigen Sommerschnupfen geschlagen, im Unterricht sein Schnupftuch aus ebendieser Tasche ziehen müssen, das Bild würde auf den Boden segeln – und Lehrer Bucher entging nichts.
    Niklas versuchte Simon in der Menge zu entdecken. Der war nicht da. Vielleicht hatte er sich nur in irgendeiner stillen Ecke in den Schatten gehockt, denn daß Simon es wagen würde, dem Unterricht fernzubleiben, konnte er sich nicht vorstellen. Genauso wenig konnte er sich vorstellen, daß Simon seinem Onkel diesen Triumph gönnen würde.
    »Was glaubst du, Herrmanns, ist der Pedell abgekratzt?« Böttcher IV stand nun wieder neben Niklas.
    »Abgekratzt? Warum sollte Töltjes gestorben sein?«
    »Warum? An einer Speckschwarte erstickt. Oder an seiner sauren Galle. Oder er ist über einen Strohhalm gestolpert und hat sich den fetten Hals gebrochen. Darf man sich
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