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Die Wildnis

Die Wildnis

Titel: Die Wildnis
Autoren: Chris Golden , Tim Lebbon
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ihren Pseudo-Spiritismus. Sie führte die Leute damit hinters Licht, nutzte ihr Leid aus und –
    Führt sie mich jetzt an der Nase herum? Bin ich hier, oder bin ich daheim? Er dachte, er träumt, aber meistens erlangte man dann die Kontrolle über seinen Traum, wenn man sich so was dachte. Im Moment kam er sich eher kontrolliert vor.
    »Raus aus meinem Zimmer«, zischte er.

    »Irgendwas folgt«, sagte seine Mutter lächelnd. Das Lächeln sah kränklich aus und färbte nicht auf die Stimme ab. »Dennochwirst du im Schnee sterben, kalt … und fast ganz allein.« Dann wandte sie sich um und ging.
    Es dauerte ein paar Minuten, bis Jack aus dem Bett aufstehen konnte, doch als er zu dieser Tür ging, war dort nur die Wand. Er berührte sie und fühlte, es war nur Holz. Jetzt bin ich ganz sicher wach , dachte er. Er ging wieder ins Bett, konnte aber nicht mehr einschlafen. Er sah das reinigende Licht des Morgengrauens langsam über Dyea erwachen.
    Von seinem Albtraum beunruhigt, doch fest entschlossen, ihn vorm Tageslicht verblassen zu lassen, war Jack an dem Tag der Allererste, der zum Chilkoot-Pass aufbrach.
    Er hatte Dyea mit zwei Lastpferden verlassen, die seine Ausrüstung trugen. Sein eigener Rucksack war zehn Kilo leichter als am Tag zuvor. Die Schultern waren gepolstert, damit die Riemen ihm nicht ins Fleisch schnitten. Als die Sonne über den weißen Gipfeln aufging, war er zügig losmarschiert, die Kerbe des Chilkoot-Passes winkte ihm aus der Ferne zu.
    Das war vor vier Tagen gewesen.
    Mittlerweile tränten seine Augen von dem Gestank der verwesenden Pferdekadaver am Wegrand. Er hielt soviel Abstand wie möglich zu den anderen, die beim Aufstieg um die beste Position wetteiferten. Er war bis jetzt gut vorangekommen, hatte die meisten Weißen überholt und sogar einige der Indianerträger, die das Klima und die Landschaft gewohnt waren.
    Er behielt die Berggipfel im Auge und sein Ziel in Sicht, und blieb für sich. Etliche Schlägereien waren unterwegs ausgebrochen, und er musste seine Pferde nicht nur um die stinkenden Raufbolde manövrieren, sondern auch um die Schaulustigen, die stehen geblieben waren, um sie anzufeuern. Wahrscheinlichwaren sie dankbar für die Ablenkung und hofften auf ein möglichst blutiges Spektakel. Jack hatte sich zwar noch nie vor einer Prügelei gedrückt, aber er roch schon den aufziehenden Winter in der Luft, während er immer höher kletterte und fürchtete, der Wintereinbruch würde viel früher kommen, als sie es erwarteten.
    Die Trümmer der Kapitulation säumten links und rechts den Weg. Er ging vorbei an Umkehrern, die aufgegeben hatten und mit niedergeschlagenen Augen wieder unterwegs nach Dyea waren. Sie hatten versagt und schämten sich. Jack schwor sich, niemals zu ihnen zu gehören. Solch ein Versagen musste schwer auf einem lasten, denn sie zeigten keine Anzeichen von Erleichterung. Die körperlichen Mühen lagen vielleicht hinter ihnen, aber sie würden auf immer mit ihrem Scheitern leben müssen.
    Während er weiterging und der Weg immer steiler wurde, blitzte die Erinnerung an den Traum dieser Nacht auf. Er träumte oft von seiner Mutter, entweder Fantasien einer perfekten Beziehung, die sie nie gehabt hatten, oder öfter noch Deutungsversuche ihrer Lieblosigkeit und gelegentlichen Grausamkeit. Sie konnte wirklich ein Herz aus Stein haben: Als Jack klein war, hatte sie oft seinen Stiefvater ermutigt, ihn zu schlagen, wenn er unartig war. Die einzige Zuwendung, die sie Jack zuteil werden ließ, war an den Tagen, wenn er mit seiner Lohntüte nach Hause gekommen war. Und dann gab es da noch diese Séancen, bei denen er sich auf den Küchentisch legen musste und sie die Geister der Toten anrief, um ihn für irgendeine kindliche Sünde zu verdammen. Er hatte schon damals nicht wirklich daran geglaubt, doch sie hatte dafür gesorgt, dass ihm die Prozedur soviel Angst wie möglich einjagte.
    »Die Geister sind nicht so weit weg, wie du denkst«, sagte sie dann. »Und wenn du unartig bist, kann ich sie hereinbitten. «
    Noch Tage nach solchen Séancen war er voller Wut und Verbitterung und traurig darüber, wie seine Mutter mit ihm umsprang. Sobald die Sonne unterging und er ins Bett musste, erfasste ihn außerdem die schreckliche Befürchtung, was wäre, wenn seine Mutter recht hatte. Auch jetzt traute er sich kaum, daran zu denken. Aber trotz allem war sie seine Mutter, und er liebte sie.
    Solche Gedanken verwirrten Jack, und die Verwirrung machte ihn wütend.
    Er fluchte
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