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Die vollkommene Lady

Die vollkommene Lady

Titel: Die vollkommene Lady
Autoren: Margery Sharp
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ihrem üblichen Spiel des Tauziehens angelangt. Sie sah wieder
auf die Postkarte, und der Teufel trug den Sieg davon.
    „Nun gut“, sagte sie, „aber ich darf
auf keinen Fall meinen Zug versäumen. Meine Tochter erwartet mich.“
    Seine Dankesworte wurden durch den
Eintritt der vier anderen Genocchios unterbrochen — dreier Brüder und eines
Vetters —, die dem Beispiel ihres Führers gefolgt waren; und in Gesellschaft
von so vielen Männern stieg Julias Stimmung zusehends. Binnen fünf Minuten war
sie der sprühende Mittelpunkt der Tischrunde. Die Wärme, der Lärm, der Druck
von Freds Knie gegen ihr eigenes, alles empfand sie gleich angenehm; und erst,
als sich auch Freds Hand unter den Tisch verirrte, erinnerte sie sich, daß sie
ja eine Dame war. Es fiel ihr zwar schwer, denn diese muskulösen Finger
sprachen eine vertraute und wohlig erregende Sprache, auf die zu antworten ihr
schwaches Fleisch nur allzu bereit war. Aber der Geist triumphierte, und Julia
erhob sich.
    „Ich möchte etwas nach Ma sehen“,
erklärte sie, „es ist doch nicht recht, sie so allein zu lassen.“
    Aber sie machte die Sache nur noch
schlimmer. Als sie die Treppe nach oben ging, wäre sie durch eine Bewegung des
nun heftig schaukelnden Schilfes beinahe zu Fall gekommen, Julia taumelte
zurück und würde das Gleichgewicht verloren haben, hätte der kräftige Arm des
Trapezkünstlers sie nicht festgehalten. Fred war ihr nachgegangen und hielt sie
so unnötig dicht an sich gepreßt, als wollte er sie über seine Gefühle nicht in
Zweifel lassen. Offenbar war er ihrem Charme erlegen, und Julia, die sich
selbst gegenüber immer ehrlich war, leugnete nicht, daß sie Freds Vorzügen auch
sehr leicht hätte erliegen können. Aber sie hielt sich vornehm zurück;
vielleicht verlieh ihr die „Forsyte Saga“, die sie noch immer unter dem Arm
hielt und die schmerzhaft gegen ihre Rippen drückte, die moralische Kraft dazu.
Jedenfalls, anstatt Freds Umarmung zu erwidern, entwand sie sich ihm.
    „Wenn Sie nicht vernünftig sind“, sie
japste fast, denn das Schiff schlingerte wirklich beträchtlich, „werde ich
heute abend nicht kommen. Ich habe ihnen doch gesagt, daß ich im Begriff bin,
zu meiner Tochter zu fahren.“
    „Verzeihen Sie“, sagte Fred bedauernd.
    Er verstand. Er war ein vollkommener
Gentleman. Er zog seinen Arm von ihrer Taille und stützte sie nur mehr ganz leicht,
mit der Hand unter dem Ellbogen, gerade so viel, wie es die Bewegung des
Schiffs unbedingt erforderlich machte. So gingen sie sittsam nebeneinander an
Deck, um sich Ma’s anzunehmen.
    Julia war traurig. Wenn die Umstände
nur ein bißchen anders gewesen wären, dachte sie, hätten sie wirklich eine
nette Zeit miteinander verbringen können.
     
    *
     
    Im Pariser Zug, der dreiviertel leer
war, hatten die Genocchios mit Julia zwei nebeneinanderliegende Abteile
besetzt. In dem ersten lag Ma, die unmittelbar, nachdem sie die Zollabfertigung
überstanden hatte, wieder zusammengesunken war und noch immer von Joe, Jack,
Bob und Willie umsorgt wurde; das andere hatten Julia und Fred ganz für sich
allein. Diese Situation war weniger gefährlich, als es den Anschein haben mochte,
denn alle Augenblicke kam einer der kleineren Genocchios zu ihnen hinein, um
Bericht zu erstatten oder eine Zigarette zu rauchen. Aber selbst in den Pausen,
in denen sie sich selbst überlassen waren, benahm sich Fred jetzt tadellos. Er
sprach ruhig und ernst, hauptsächlich über Geld, und entfaltete einen
Familienstolz, der ihm sehr gut zu Gesicht stand. Die Genocchios, gab er Julia
zu verstehen, waren nicht irgendwelche Schmierenkomödianten. Der Abstammung
nach Italiener, waren sie, wenn auch vielleicht nicht mit Wilhelm dem Eroberer,
jedenfalls aber bereits unter der Regierung Karls II. nach England gekommen.
Sie besaßen noch alte Programme, die das bewiesen. Im Victoria- und
Albert-Museum gab es so ein altes Programm, auf dem ihr Name stand. Er, Fred, war
als kleiner Junge einmal von seinem Vater und seinem Onkel — beide Künstler von
Rang — mitgenommen worden, um es anzusehen, und sein Großvater hatte es
seinerzeit dem Museum vermacht. Es gab keine andere Familie in ihrem Beruf —
außer natürlich den berühmten Lupinos —, die es mit ihnen aufnehmen konnten.
    Julia lauschte verzückt, und ihr
Interesse schwand auch nicht, als Fred von der Vergangenheit schließlich auf
die Gegenwart zu sprechen kam. Er erzählte von Geld auf der Bank, einem eigenen
Haus in Maida Vale, denn die
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