Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
denn von dem Geld, das Daddy ihm dafür gegeben hat, konnte er seinem ältesten Sohn ein Paar neue Schuhe kaufen.«
In den letzten Monaten war Laurel sich nie ganz sicher gewesen, ob ihre Mutter sie überhaupt hörte, aber die nette Schwester versicherte ihr jedes Mal, dass sie keinen Zweifel daran habe, und manchmal nahm Laurel sich die Freiheit, etwas hinzuzudichten – ohne zu übertreiben; sie ließ es nur geschehen, wenn ihre Fantasie vom Pfad der Haupthandlung abschweifte. Iris gefiel das nicht, sie meinte, die Geschichte ihrer Mutter sei ihr wichtig, und Laurel habe kein Recht, sie auszuschmücken. Doch der Arzt hatte, als er von dem Frevel erfuhr, nur die Schultern gezuckt und gesagt, es komme vor allem auf das Reden an, nicht so sehr darauf, dass alles der Wahrheit entspreche. Dann hatte er mit einem Augenzwinkern hinzugefügt: »Vor allem von Ihnen, Miss Nicolson, sollte man keinen ausgeprägten Hang zur Wahrheit erwarten.«
Zwar hatte er ihre Partei ergriffen, aber Laurel hatte sich über die Anspielung geärgert. Sie hatte kurz überlegt, ob sie den unverschämten Arzt mit seinem allzu schwarzen Haar und seinen allzu weißen Zähnen auf den Unterschied zwischen einem Theaterstück und dem wirklichen Leben hinweisen und ihm sagen sollte, dass es in beiden Fällen auf die Wahrheit ankam; aber sie wusste, dass es keinen Zweck hatte, mit einem Mann eine intellektuelle Auseinandersetzung zu führen, der einen albernen Kugelschreiber in Form eines Golfschlägers in der Brusttasche trug.
Sie schlug die nächste Seite auf, mit den Fotos von ihr als Kleinkind. Zügig erzählte sie die Geschichte ihrer Kinderjahre – die kleine Laurel schlafend in einer Wiege, an der Wand darüber Sterne und Feen, die kleine Laurel missmutig blinzelnd in den Armen ihrer Mutter, die kleine Laurel, schon ein bisschen größer, wie sie auf ihren stämmigen Beinchen am Strand durch das seichte Wasser läuft – bis zu der Stelle, wo das Wiedergeben von Gehörtem endete und ihre eigene Erinnerung begann. Sie blätterte die Seite um, und sofort ertönten der Lärm und das Lachen der anderen in ihrem Kopf. War es Zufall, dass ihre Erinnerungen so stark an die Ankunft ihrer Schwestern gekoppelt waren? Bilder, auf denen sie im hohen Gras herumtollten, aus dem Baumhausfenster winkten, wie die Orgelpfeifen aufgereiht vor ihrem Haus standen – frisch gewaschen und gekämmt und herausgeputzt für irgendeinen Ausflug.
Laurels Albträume hatten mit der Geburt ihrer Schwestern aufgehört. Das heißt, sie hatten sich verändert. Sie wurde nicht länger heimgesucht von Zombies und Monstern und bösen Männern, die tagsüber im Wandschrank hausten; jetzt träumte sie stattdessen, dass eine Flutwelle kam, dass die Welt vor dem Untergang stand, dass ein Krieg ausbrach und sie allein ihre jüngeren Schwestern beschützen musste. Die Ermahnung ihrer Mutter gehörte zu ihren deutlichsten Kindheitserinnerungen: »Pass auf deine Schwestern auf. Du bist die Älteste, lass sie nicht aus den Augen.« Damals war Laurel nicht in den Sinn gekommen, dass ihre Mutter womöglich aus Erfahrung sprach; dass in ihren Worten die jahrzehntealte Trauer um einen jüngeren Bruder mitschwang, den sie im Zweiten Weltkrieg bei einem Bombenangriff verloren hatte. Kinder können sehr egoistisch sein, vor allem glückliche. Und die Nicolson-Kinder waren glücklicher gewesen als die meisten.
»Schau mal, das war Ostern. Das Baby im Hochstuhl ist Daphne, das muss also 1956 gewesen sein. Ja, genau. Rose hat einen Arm in Gips, diesmal den linken. Iris albert herum und lacht, aber das Lachen wird ihr bald vergehen. Weißt du noch? An dem Nachmittag ist sie heimlich an den Kühlschrank gegangen und hat alle Krebsscheren ausgesaugt, die Daddy am Tag davor vom Angeln mitgebracht hatte.« Es war das einzige Mal, dass Laurel ihren Vater wirklich wütend erlebt hatte. Er war von seinem Mittagsschlaf aufgestanden, voller Vorfreude auf das köstliche Krebsfleisch, und dann hatte er im Kühlschrank nur die leeren Scheren vorgefunden. Laurel erinnerte sich, wie Iris sich hinter dem schweren Sofa versteckt hatte – der einzige Ort, wo ihr Vater nicht an sie herankam, um sie sich zu schnappen und übers Knie zu legen (eine leere Drohung, die dennoch ihre Wirkung tat) – und sich weigerte herauszukommen. Wie sie flehte und bettelte, einer möge ihr doch bitte, bitte ihr Pippi-Langstrumpf -Buch unters Sofa schieben. Laurel musste lächeln. Sie hatte ganz vergessen, wie lustig Iris sein
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