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Die Verlorene Kolonie

Die Verlorene Kolonie

Titel: Die Verlorene Kolonie
Autoren: Eoin Colfer
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konnte hören, dass es Angst hatte. »Weilt sie an dieser Stätte?«
    Nicht gerade eine zeitgemäße Wortwahl ging Artemis durch den Kopf, aber eindeutig Englisch. Woher kann ein im Zeitmeer treibender Dämon Englisch?
    Rund um das Wesen knisterte die Luft vor Elektrizität, und weiße Stromblitze durchschnitten den Raum.
    Den Zeit-Raum. Ein Riss, ein Loch in der Zeit.
    Artemis ließ sich davon nicht beeindrucken - schließlich hatte er bei der Belagerung von Fowl Manor sogar miterlebt, wie die Zentrale Untergrund-Polizei die Zeit angehalten hatte. Was ihn vielmehr beschäftigte, war die sehr reale Gefahr, von dem Wesen mitgezogen zu werden. Weil dann die Aussicht, in seine eigene Dimension zurückzukehren, ziemlich gering wäre und die, in seine eigene Zeit zurückzukehren, gleich null.
    Er rief nach Butler, doch es war zu spät. Sofern man das Wort spät benutzen kann, wenn Zeit nicht mehr existiert. Der Riss hatte sich geweitet und ihn und den Dämon verschlungen. Die Häuser und Menschen von Barcelona lösten sich langsam auf, und an ihrer Stelle erschien zuerst ein purpurfarbener Nebel, dann eine Sternengalaxie. Artemis verspürte glühende Hitze, gefolgt von eisiger Kälte. Er war überzeugt, wenn er wieder Gestalt annahm, würde er in Flammen aufgehen, und seine Asche würde gefrieren und sich im All verteilen.
    Innerhalb einer Sekunde oder eines Jahres - unmöglich, es genauer zu sagen - veränderte sich ihre Umgebung. An die Stelle der Sterne trat ein Ozean, und sie befanden sich auf seinem Grund. Überall um sie herum peitschten seltsame Tiefseewesen mit ihren phosphoreszierenden Tentakeln durch das Wasser. Dann umgab sie ein Eisfeld und gleich darauf eine rote Landschaft, deren Luft von feinem Staub erfüllt war. Schließlich erblickten sie wieder Barcelona. Aber die Stadt sah anders aus. Sie war jünger.
    Der Dämon heulte und klapperte mit seinen spitzen Zähnen und gab jeden Versuch auf, Englisch zu sprechen. Glücklicherweise war Artemis einer von nur zwei Menschen in Raum und Zeit, die Gnomisch beherrschten, die Sprache der Unterirdischen. »Beruhige dich, mein Freund«, sagte er. »Unser Schicksal ist besiegelt. Genieß die wunderbaren Bilder.«
    Das Geheul des Dämons verstummte schlagartig, und er ließ Artemis' Hand los. »Du sprechen Unterirdisch?«
    »Gnomisch«, korrigierte Artemis ihn. »Und besser als du, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.«
    Der Dämon verstummte und starrte Artemis an wie ein Wunderwesen. Was dieser natürlich auch war. Artemis seinerseits verbrachte die möglicherweise letzten Minuten seines Lebens damit, die Szenerie um sich herum zu betrachten. Sie befanden sich auf einer Baustelle. Die Baustelle der Casa Milá, aber das Haus war noch nicht fertig. Scharen von Arbeitern liefen über das Gerüst an der Vorderfront des Gebäudes, und ein dunkelhäutiger, bärtiger Mann stand mit gerunzelter Stirn vor einem Blatt mit Bauzeichnungen.
    Artemis lächelte. Es war Gaudí höchstpersönlich. Faszinierend.
    Die Szenerie nahm klarere Konturen an, die Farben wurden kräftiger. Jetzt konnte Artemis auch die trockene spanische Luft riechen und das Gemisch aus Schweiß und Farbe.
    »Verzeihung?«, sagte Artemis auf Spanisch.
    Gaudí blickte von seinen Zeichnungen auf, und an die Stelle des Stirnrunzelns trat der Ausdruck fassungslosen Staunens. Vor ihm tauchte ein Junge aus dem Nichts auf. Und an seiner Seite kauerte ein Dämon.
    Der brillante Architekt prägte sich jede Einzelheit des Bildes vor ihm ein, damit er es niemals wieder vergaß. »Sí?« , erwiderte er zögernd.
    Artemis deutete auf die Spitze des Gebäudes. »Sie haben ein Mosaik für das Dach geplant. An Ihrer Stelle würde ich das noch mal überarbeiten. Das Motiv ist alles andere als originell.«
    Und die beiden verschwanden, der Junge und der Dämon.
     
    * * *
     
    Butler zuckte nicht mit der Wimper, als das merkwürdige Wesen aus dem Zeitloch heraustrat. Aber schließlich war er darauf trainiert, in keiner Situation panisch zu reagieren, und sei sie noch so ungewöhnlich. Unglücklicherweise hatte jedoch außer ihm niemand auf dem Passeig de Grácia die Leibwächter-Akademie von Madame Ko besucht, und so brachen alle Umstehenden nach der ersten Schrecksekunde lautstark in Panik aus - alle außer dem blondlockigen Mädchen und den beiden Männern an ihrem Tisch.
    Fahrer ließen ihre Autos stehen oder steuerten sie kopflos in das nächste Schaufenster. Eine Menschenwoge wich wie von unsichtbarer Hand gelenkt vom
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