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Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith

Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith

Titel: Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith
Autoren: Christoph Marzi
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vom ersten Moment an gespürt hatte. Das war es, was mich das Verhalten des Kindes hatte verstehen lassen. Sie war ein Waisenkind, wie ich es einst gewesen bin.
    Emily Laing hatte das Glück gehabt, einen Platz im Leben zu finden. Doch war ich nicht ihr Vater. Und Peggotty war nur meine Haushälterin und kein Ersatz für eine Mutter. Wenngleich wir uns bemühten, dem Mädchen ein Zuhause zu geben, so blieb Emily am Ende doch immer allein. Zwar hatte sie mittlerweile herausfinden können, wer ihre leibliche Mutter war und welchen Hauses Blut durch ihre Adern floss, doch wollte sie nachdrücklich nichts mit der Familie, in deren Mitte der Irrsinn Einzug gehalten hatte, zu tun haben. Ihre jüngere Schwester hatte sie seit zwei Jahren nicht mehr gesehen.
    So vieles hatte sich verändert.
    Die Zukunft war nicht das geworden, was wir uns erhofft hatten.
    Doch wird sie das jemals?
    Einen Moment lang standen wir schweigend da.
    Die wenigen älteren Schüler, die schnellen Schrittes unseren Weg im Treppenhaus kreuzten, warfen mir ängstliche Blicke zu.
    »Sie sind ja richtig beliebt«, bemerkte Emily lakonisch und spielte auf den von mir bekleideten Lehrstuhl für moderne Alchemie am Whitehall College an.
    »Schüler!«, murmelte ich abfällig.
    Emily sah ihnen hinterher.
    Sehnsüchtig.
    »Die meisten von ihnen wissen gar nicht, wie gut sie es haben.«
    »Weil sie meine Kurse besuchen dürfen?«
    Emily musste kurz grinsen, wurde aber schnell wieder ernst.
    »Weil sie normal sind.«
    Fast schon magisch klangen die Worte aus ihrem Mund.
    Normal.
    »Was ist schon normal?«
    »Die anderen Schüler«, gab sie zur Antwort. »Die sind normal.«
    »Glauben Sie, dass die anderen glücklich sind?«
    Das gesunde Auge sah mich fragend an. »Glücklicher, als ich es bin?«
    »Ja.«
    Emily nickte. »Genau das, Wittgenstein, glaube ich.«
    »Weil die anderen Kinder eine glückliche Kindheit hatten und Sie nicht?«
    Emily wusste selbst am besten, dass sie keine normale Kindheit verbracht hatte. Den Demütigungen des Waisenhauses entronnen, hatte sie die wirkliche Welt kennen gelernt. Jenes uralte London, das lebte und atmete und träumte. Die Stadt der Schornsteine mit ihren dunklen und labyrinthischen Pfaden, die sich jenseits der U-Bahnhöfe erstreckten. Sie hatte Dinge gesehen, die so unglaublich gewesen waren, dass sie sich selbst jetzt, da nunmehr nahezu vier Jahre seit jenen Ereignissen vergangen waren, schwer damit tat, dies alles als einen Teil der Welt, in der sie lebte, zu begreifen.
    »Keiner von denen«, sagte ich und deutete dezent auf die in den Korridoren entlangschleichenden Schüler, »weiß, wohin er gehört.«
    Emily schwieg.
    Sie hatte die Hände in den Manteltaschen vergraben und den alten Rucksack geschultert.
    Die hohen Fenster im Treppenhaus vor uns gaben den Blick frei auf den nahen St. James Park, um dessen kahle Baumgerippe sich aufkommender feiner Nebel gelegt hatte. Dichte Wolken hatten sich über der Stadt zusammengezogen und ließen eine Heerschar kalter Tränen auf die überfüllten Straßen herniederströmen.
    »Sie hatten etwas mit mir vor«, rief das Mädchen sich meine Bemerkung aus dem Zimmer der Direktorin ins Gedächtnis zurück.
    »Sie sind sehr neugierig.«
    »Oh, bitte!«
    Sie folgte mir durch die verzweigten Korridore zum Ausgang. Es roch nach gebohnertem Stein und der Furcht der Schüler vor den wöchentlich stattfindenden Klausuren. Marmorbüsten säumten unseren Weg. Um ungelöste Aufgaben kreisende Gedanken schwebten wie Geister durch die Luft, die schwer war von der Last, Außergewöhnliches leisten zu müssen, die den Kindern der Reichen und Privilegierten zumeist aufgebürdet wurde.
    »Was ist passiert?«
    »Es hat einen Mord gegeben«, beantwortete ich ihre Frage. »Drüben in Barkingside Beneath.«
    Wir traten nach draußen.
    Misstrauisch fragte Emily: »Was haben wir damit zu tun?«
    Ich schlug den Kragen meines Mantels hoch. »Fragen Sie nicht!«
    Ganz so, wie es Emily Laings Art war, tat sie es aber doch.
    Natürlich hatte Emily Laing bereits von den Ereignissen gehört, die London seit einigen Monaten heimsuchten. Davon, dass Menschen hier einfach so vom Angesicht der Erde verschwanden oder ermordet aufgefunden wurden. In geflüsterten Sätzen, die sich zu einem Nebel aus beängstigenden Gerüchten und geheimnisvollen Neuigkeiten verwoben, hatte sie es gehört. Im alten Raritätenladen drüben in Covent Garden, wo sie des Nachmittags arbeitete, verlor die Kundschaft das eine oder andere
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