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Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Titel: Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
Autoren: Gaétan Soucy
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erwiderte Clémentine, ohne ein Schaudern unterdrücken zu können.
    »Zeigt das denn nicht, wie oft wir uns in den Menschen täuschen, Mademoiselle Clément? Sie haben geglaubt, ihn in flagranti mit den Kindern zu ertappen, dabei war er nur Zeuge dieses abscheulichen Verbrechens. Zeuge, Mademoiselle Clément, nicht der Schuldige.«
    »Das zeigt auch, dass ich recht hatte: Es gab wirklich und tatsächlich ein Verbrechen. Ich finde es übrigens seltsam, dass Sie diesem Brief jetzt auf einmal Glauben schenken, wo Sie wissen, dass der Bankangestellte ihn geschrieben hat.«
    »Sie haben Recht. Aber Pfarrer Cadorette sagt es ganz entschieden: Monsieur Tremblay kann nicht lügen. Jedenfalls wissen wir jetzt Bescheid. Und können uns Bradette und Rocheleau vornehmen.«
    Sie mussten einen Augenblick stehen bleiben, weil sich die Menge an der Ecke staute. Clémentine kam ein völlig absurder Gedanke in den Sinn. Beunruhigt fragte sie:
    »Und der Schuldige? Wer ist es?«
    »Man weiß es leider immer noch nicht.«
    Die Lehrerin sah den Direktor wortlos an.
    »Was schauen Sie mich so an?«, fragte Gandon aufgebracht. »Sie wollen doch wohl nicht im Ernst behaupten, ich wäre es gewesen!«
    Clémentine zuckte gereizt, als wollte sie sagen: »Ach, lassen Sie doch den Unsinn …!« Aber sie war rot geworden. Sie gingen weiter. Gandon zitterte vor Wut. Sie liefen an denzahlreichen Passanten vorbei, wichen den Kindern aus, die ihnen mit ihren Hockeyschlägern entgegenkamen oder sie rennend überholten. Clémentine fiel auf, dass keine Mädchen auf der Straße waren.
    »Und woher wissen Sie das alles?«, fragte sie weiter.
    »Wie ich Ihnen schon sagte: von Pfarrer Cadorette. Er ist der Einzige, der Remouald wirklich gut gekannt hat, deshalb hat die Polizei ihn zu Rate gezogen. Aber er hat mir noch mehr über den Bankangestellten erzählt. Eine ganz andere Geschichte.«
    Sie gelangten an die Kreuzung Rue Darling und Rue Sainte-Catherine. Ein Mann überquerte die Straße und kam auf sie zu, ohne sie anzusehen. Er wirkte ein wenig furchteinflößend mit seiner hohen Statur, dem pockennarbigen Gesicht und den kohlenschwarzen Augen; aber doch ansehnlich. Sein krauses Haar bildete eine Art Bettstatt für seinen Zylinderhut. Clémentine kannte ihn: Es war Raymond Costade, der Direktor des Bestattungshauses. »Und der ist bald mein Schwager«, dachte Clémentine gerührt. Sie grüßten sich unter Einhaltung des gebührenden Abstands. Gandon warf einen Blick auf den Gegenstand, den Costade unter dem Arm trug. Der fühlte sich verpflichtet zu erläutern:
    »Ein Marienbild, schauen Sie. Es lag einfach so in der Gosse. Die Kinder sind darauf durch den Schnee geschlittert. Ich weiß nicht, wie es da hingekommen ist. Komische Sache. Das Bild ist eine Kindheitserinnerung für mich. Ein Freund aus Kindertagen hat es gemalt, er lebt jetzt in New York. Zufällig hatte ich es am Tag des Brandes dem armen Monsieur Blanchot anvertraut – Gott hab ihn selig. Ich dachte eigentlich, es sei ebenfalls verbrannt. Komisch, wie bestimmte Dinge immer wieder zu einem zurückkommen …«
    Sie hörten ihm mit einer gewissen Beschämung zu, denn Raymond Costade litt unter ausgeprägtem Stottern. Schließlich verabschiedete er sich mit ähnlichem Unbehagen. Gandon sah der schlaksigen Gestalt eine Weile nach. »Der Mann, der seine eigene Mutter einbalsamiert hat«, dachte er schaudernd.
    Die Menge bewegte sich weiter und zog sie mit sich in den gemeinsamen Hof von Polizeistelle und Feuerwache. Die Menschen hatten Fackeln an ihren Fenstern angebracht.
    Gandon wusste nicht, ob er das Recht hatte, Clémentine das Geheimnis des Bankangestellten zu enthüllen. Er sagte sich: »Sie hat sich so in ihm getäuscht, dass ich ihn ins rechte Licht rücken muss, damit sie sehen kann, wie falsch sie lag.« Aber er wusste auch, dass seine Worte die Lehrerin verletzen würden und dass gewiss darin seine eigentliche Motivation lag. Gandon erzählte ihr alles, was er über Remoualds Kindheit erfahren hatte, über seine Intelligenz, seine monströse Leidenschaft für die Ideen, und auch über seine Beziehung zu Wilson. Ihre Blasphemie. Die Gottesdienste, die sie zum Spott der Heiligen Jungfrau parodierten. Und die fleischlichen Praktiken, die natürlich mit hineinspielten.
    Clémentine hörte ihm mit wachsendem Unbehagen zu. Wenn der Pfarrer all das gewusst hatte, warum hatte er dann nichts unternommen?
    »Aber er wusste doch gar nichts«, antwortete Gandon. »Er hat das alles in Wilsons
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