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Die Tränen des Herren (German Edition)

Die Tränen des Herren (German Edition)

Titel: Die Tränen des Herren (German Edition)
Autoren: Anke Napp
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Als sich das Tier ein wenig zur Seite bewegte, sah Jocelin die mit einem Seil am Sattelbogen gefesselten Hände eines Mannes. Seine übrige Gestalt wurde vom breiten Rücken eines Söldners verdeckt. Der Schlag dessen gepanzerter Faust ließ den Gefangenen in den Schlamm stürzen. Er trug die weiße, mit dem roten Kreuz bestickte Tunika der Templer. Jocelins Hand fuhr an sein Schwert, doch dann besann er sich und verhielt reglos. Langsam richtete sich der Gefangene wieder auf, und Jocelin erkannte Robert, den Komtur von Paris.
    „Jetzt ist dir dein Hochmut vergangen, was?“ höhnte der Söldner. Komtur Robert blickte ihm gerade ins Gesicht.
    „Ich verlange den Erzbischof von Sens zu sprechen!“
    Die Söldner lachten und ritten im Kreis um ihn herum. „Du wirst gleich den Inquisitor sprechen können!“
    In ohnmächtiger Wut schaute Jocelin zu, wie der Söldnerzug sich wieder in Bewegung setzte.
    „Der Inquisitor?“ wiederholte er halb fragend.
    „Ihr habt richtig gehört, Sire! Ihr Templer steht unter der Anklage der Ketzerei! Eine große Schrift war an der Pforte von Notre Dame angeschlagen, ‚ne mächtig prunkvolle Schrift mit Siegel! Die Priester haben sie uns vorgelesen. Ihr seid Wölfe im Schafspelz, hieß es, und man müsse euch ausrotten, ehe ihr das ganze Land mit eurer widerlichen Sitte ansteckt. So gut wie jeder ist in Paris um die Neuigkeit zu hören!“
    Unter anderen Umständen hätte Jocelin den Alten des Rausches bezichtigt. Was für ein Unfug! Der Orden der Templer und Ketzerei! Hunderte Ritter hatten im Kampf für die Kirche ihr Leben geopfert! Es war absurd! So sehr, dass es einen beängstigenden Grad an Wahrscheinlichkeit enthielt. Die fehlende Standarte... Der gefangene Komtur Robert...
    Nein, es konnte nicht sein! Es musste ein Irrtum sein, ein unglücklicher Zufall! Bruder Jocelin fasste nach den Zügeln seines Pferdes.
    „Wenn Ihr jetzt geht, Sire, werden sie Euch aufgreifen, sie werden Euch foltern, und Ihr werdet von mir erzählen! Und ich hab‘ keine Lust, mit den glühenden Zangen der Inquisition Bekanntschaft zu schließen!“
    „Wenn das alles wahr ist, was du sagst, warum hast du keine Furcht, dich mit mir abzugeben? Warum lieferst du mich nicht aus?“
    Der Alte lachte und spuckte aus.
    „Hab‘ ich gesagt, dass ich‘s glaube, was die Priester schwätzen? Bei allen Heiligen, wenn Euer Orden ketzerisch ist, dann pfeif‘ ich auf die wahre Kirche!“
    Er hatte Jocelin in einen Bretterverschlag gedrängt und machte eine weit ausholende Bewegung. „Mein Palast! Hier wird Euch niemand sehen. Na, ist es nicht ein würdiges Plätzchen für einen Untertanen Seiner Allerchristlichsten Majestät?! Ich bin arm! Ich war es schon immer, und niemand kümmerte es, was aus mir wurde. Die Seele eines Armen wiegt zu leicht in einer Zeit, in der die Priester den Bischofshof wegen fetten Pfründen belagern! Ich konnte es mir nicht leisten, ehrlich zu sein...“
    Bruder Jocelins Sinne schweiften ab.
    Ketzerei... was für eine Ketzerei? Der Orden der Templer angeklagt. Von wem eigentlich? Sein Blick wanderte zu seinem Pferd. Am Sattelbogen hing die Schatulle mit den Wechseln. Das war jetzt wertloses Papier... König Philipp hatte die Templer gefangengenommen - alle? Oder nur die Komturei von Paris? Was war mit den Brüdern in den anderen Ländern? Was sollte er jetzt tun?
    „... sie verurteilten mich also zu einer Bußwallfahrt nach Santiago. Hat man vielleicht je gehört, dass den Ministern des Königs so was auferlegt wurde?! Dabei stehlen die, dass es jedem Dieb Ehre machen würde!“ Der Alte schloss einen langen Fluch an.
    „Oben in den Bergen nach Spanien geriet ich in einen Schneesturm, verlor meine Reisegefährten. Am nächsten Morgen überfiel mich eine Bande dieser schwarzen baskischen Teufen... Die klauten mir die Stiefel.“ Er klopfte gegen sein Holzbein. „Das ist die Erinnerung daran! Erfroren! Aber ich schaffte es noch bis in die Ebene, bis zum Hospiz Eures Ordens, Messire. Ah, ich sage Euch, ich hatte höllische Schmerzen, aber trotzdem waren es die schönsten Tage meines Lebens! Einmal hat man mich nicht behandelt wie einen dreckigen Köter, sondern wie einen Gast! Was sage ich, wie einen König! Ich hatte ein eigenes Bett, die edlen Herren wuschen mich, und es gab Fleisch zu essen...“
    Ganz gefangen in seiner glücklichen Erinnerung lächelte der Alte. „Nein, Messire, Ihr seid kein Ketzer, mögen die Leute sagen was sie wollen! Viel eher ist es der schmierige Nogaret,
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