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Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)

Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Giuliano Pasini
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gesehen.«
    »Ach, keine Sorge, die werden Sie schon erkennen, wenn Sie sie sehen. Lila Haare, ovale Brille und im Gesicht ein unsichtbares Schild mit der Aufschrift ›Ich bin von der Scuola Normale‹. Beim Kickoff-Meeting hat sie von der ersten bis zur letzten Minute genervt. Schließen Sie also Freundschaft mit den Einheimischen, falls Ihnen nach Gesellschaft ist – die Tante macht mir prima facie einen ziemlich ungenießbaren Eindruck.«

Sonntag beim Abendessen
    »So. Erst einmal hallo und guten Abend zusammen. Ich hoffe, Sie alle konnten das Abendessen und Stelios Küche genießen, die wie üblich ganz ausgezeichnet war, wie ich betonen möchte. Nun wären die kulinarischen Künste des guten Stelio zwar Grund genug, hierherzukommen, aber wir haben uns heute auch noch aus anderem Grunde versammelt, nämlich um unsere Gäste ganz herzlich willkommen zu heißen.«
    Der Herr Bürgermeister drückte sich in der Regel in bestem Italienisch aus, hatte jedoch im Lauf des Abendessens und beim anschließenden Beisammensein Trost und Schutz vor der Kälte gefunden, indem er sich etliche Gläser Grappa hinter die Binde goss, was seine Beredsamkeit nun ein wenig beeinträchtigte. Gönnerhaft nickte er Piergiorgio zu, der zu seiner Rechten saß.
    »Dr.   Piergiorgio Pazzi, Physiologe, nicht wahr, vom Institut für Endokrinologie der Universität Pisa. Er ist für die biomedizinische Seite des Projekts zuständig …«
    Der Bürgermeister machte eine ausladende Handbewegung nach links, wo eine junge Frau saß. Sie war groß, hatte schwarze, durch ein paar lila Strähnen aufgepeppte Haare und trug eine kleine Brille mit Metallrahmen, hinter deren Gläsern ein Augenpaar lag, so grün wie die Hoffnung, die Trägerin näher kennenzulernen; eine Hoffnung, die Piergiorgio ganz entgegen Professor Ferronis Ratschlag schon seit ihrem ersten Anblick hegte.
    »… und Dr.   Margherita Castelli, Forschungsangestellte in Romanischer Philologie an der Scuola Normale Superiore di Pisa. Sie übernimmt den, wenn man so sagen kann, genealogischen Teil. Soweit ich verstanden habe, wird die Aufgabe von Frau Dr.   Castelli darin bestehen, die Familienhintergründe und den Stammbaum jedes einzelnen Bewohners unseres Ortes zurückzuverfolgen, und zwar anhand des Kirchenarchivs, das bei uns bis aufs Jahr 1634 zurückgeht.«
    Die unterschiedliche Ausführlichkeit der beiden Vorstellungen kündete nicht etwa von einer Feindseligkeit gegenüber Pazzi. Vielmehr beruhte sie auf dem Umstand, dass der Bürgermeister, der Piergiorgio rechts und Frau Dr.   Castelli links von sich hatte Platz nehmen lassen, sich mehr oder minder über die gesamte Dauer des Abendessens nach links gewandt und den armen Piergiorgio fast völlig ignoriert hatte.
    »Die durch Frau Dr.   Castelli durchgeführte Rekonstruktion wird dazu dienen, ohne jede Ambi, Ambig, also mit absoluter Sicherheit festzustellen, wie eng die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen uns allen sind, nicht wahr, sodass sich unser genetisches Erbe zweifelsfrei zuschreiben lässt.«
    Denn, zugegeben, wahrscheinlich lag Professor Ferroni nicht ganz falsch, wenn er Dr.   Castelli als klassische Vertreterin der Scuola Normale und Nervensäge erster Güte bezeichnete. Aber er hatte dabei die Tatsache übergangen, dass sie auch eine ausgesprochene Schönheit war. Von nordischem Aussehen, unterkühlt und vielleicht nicht sehr freundlich; aber genau von dem äußerlich kalten Typus, den sich der Durchschnittsitaliener als eisige Oberfläche vorstellt, die den Gipfel eines Vulkans umgibt, solange er untätig bleibt. Gewiss, draußen ist es kalt, aber das sind nur die äußeren Bedingungen; drinnen sieht es völlig anders aus.
    Der Abendempfang für die neu eingetroffenen Gäste hatte ein paar Stunden zuvor damit begonnen, dass die beiden Wissenschaftler im Haus des Bürgermeisters vorstellig geworden waren. Dieser hatte ausdrücklich Wert darauf gelegt, sie schon vor dem offiziellen Abendessen, an dem ein Gutteil der Dorfbewohner teilnehmen würde, persönlich kennenzulernen und sie zu diesem Zweck bei sich zu Hause zu empfangen. Der Herr Bürgermeister – mit Namen Benvenuti Armando – erwies sich als etwa sechzigjähriger Provinzkavalier mit offenem Blick, gerader Haltung und der gelassenen Ausstrahlung eines Mannes, der weiß, dass das Leben es gut mit ihm meint und er sich das auch redlich verdient hat. Nun ließ er wie jeder gute Gastgeber den Neuankömmlingen eine kleine Hausführung angedeihen.
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