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Die Tote in der Bibliotek

Die Tote in der Bibliotek

Titel: Die Tote in der Bibliotek
Autoren: Agatha Christie
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Bibliothek, nicht wahr?»
    Constable Palk gab nach, aus lebenslanger Gewohnheit, den Wünschen der Aristokratie zu entsprechen. Der Inspektor brauchte ja nichts davon zu wissen.
    «Es darf aber nichts berührt oder in irgendeiner Weise verändert werden», warnte er die Damen.
    «Natürlich nicht», gab Mrs. Bantry ungeduldig zurück. «Das ist uns klar. Sie können ja mitkommen und aufpassen, wenn Sie möchten.»
    Der Wachtmeister machte von dieser Erlaubnis Gebrauch. Er wäre so oder so mit hineingegangen.
    Triumphierend führte Mrs. Bantry ihre Freundin zu dem großen altmodischen Kamin. «Dal», sagte sie mit viel Sinn für die dramatische Zuspitzung.
    Jetzt verstand Miss Marple, warum ihre Freundin gesagt hatte, die Tote wirke überhaupt nicht real. Die Bibliothek war ein für seine Besitzer sehr typischer Raum: groß, schäbig und unordentlich, breite durchgesessene Sessel, ein Sammelsurium von Pfeifen, Büchern und Papieren auf dem großen Tisch, an den Wänden ein, zwei gute alte Familienporträts, einige schlechte viktorianische Aquarelle und ein paar gewollt spaßige Jagdszenen und in der Ecke eine Vase mit großen Astern. Der ganze Raum war dämmrig und behaglich. Man sah ihm an, dass er seit Generationen von einer traditionsbewussten Familie benutzt wurde.
    Doch auf dem Bärenfell vor dem Kamin lag etwas Neues, Grelles, Melodramatisches. Ein knallig aufgemachtes junges Mädchen. Ein Mädchen mit unnatürlich blondem, in kunstvollen Locken und Kringeln hoch getürmtem Haar. Den schlanken Körper umschloss ein rückenfreies Abendkleid aus weißem, paillettenbesetztem Satin. Das Gesicht war stark geschminkt. Der Puder stach grotesk gegen die blauen Schwellungen ab, die Wimperntusche lag dick auf den verzerrten Wangen, das Scharlachrot der Lippen glich einer klaffenden Wunde. Die Fingernägel waren blutrot lackiert, ebenso die Zehennägel in den billigen silbernen Riemchenschuhen. Eine vulgäre, aufgedonnerte Erscheinung, höchst unpassend inmitten der soliden, altmodischen Gemütlichkeit von Colonel Bantrys Bibliothek.
    «Verstehst du jetzt, was ich gemeint habe? Es kann einfach nicht wahr sein!», sagte Mrs. Bantry leise.
    Die alte Dame neben ihr nickte. Lange und nachdenklich sah sie auf die verkrümmte Gestalt hinab.
    «Ein ganz junges Ding», sagte sie schließlich leise.
    «Ja – ja, in der Tat», pflichtete Mrs. Bantry bei, als hätte sie soeben eine überraschende Entdeckung gemacht.
    Miss Marple beugte sich hinab. Sie berührte das Mädchen nicht. Sie betrachtete die Finger, die sich vorn in das Kleid gekrallt hatten. Das Mädchen musste verzweifelt nach Luft gerungen haben.
    Draußen knirschten Autoreifen über den Kies.
    «Das wird der Inspektor sein», sagte Constable Palk aufgeregt.
    Und gemäß seinem tief verwurzelten Glauben, dass man von der Aristokratie niemals im Stich gelassen wurde, strebte Mrs. Bantry in der Tat augenblicklich der Tür zu. Miss Marple folgte ihr.
    «Keine Sorge, Palk», sagte Mrs. Bantry.
    Der Wachtmeister war unendlich erleichtert.
     

VI
     
    Nachdem Colonel Bantry hastig den letzten Bissen Marmeladentoast mit einem Schluck Kaffee hinuntergespült hatte, eilte er in die Halle und sah draußen zu seiner Erleichterung Colonel Melchett, den Polizeichef der Grafschaft, in Begleitung von Inspektor Slack aus einem Auto steigen. Chief Constable Melchett war ein Freund des Colonels. Für Slack dagegen – einen energischen Mann, der seinen Namen Lügen strafte und seinen Übereifer mit einem gerüttelt Maß an Grobheit gegenüber Leuten verband, die er für unwichtig hielt –, für Slack hatte Colonel Bantry noch nie viel übrig gehabt.
    «Morgen, Bantry», sagte der Chief Constable. «Dachte, ich komme besser selbst. Scheint ein ungewöhnlicher Fall zu sein.»
    «Es ist – es ist…» Colonel Bantry fehlten die Worte. «Es ist unfassbar, grotesk geradezu!»
    «Keine Ahnung, wer die Frau ist?»
    «Nicht die geringste. Hab sie noch nie gesehen.»
    «Weiß der Butler etwas?», fragte Inspektor Slack.
    «Lorrimer ist genauso perplex wie ich.»
    «Hm.»
    «Das Frühstück steht noch im Speisezimmer, Melchett», sagte Colonel Bantry. «Wie wär’s mit einem Happen?»
    «Nein, nein, machen wir uns lieber gleich an die Arbeit. Haydock muss jeden Moment hier sein – ah, da ist er ja.»
    Ein zweites Auto fuhr vor, dem der große, breitschultrige Doktor Haydock entstieg, der auch als Polizeiarzt fungierte. In einem dritten Wagen waren zwei Männer in Zivil eingetroffen, einer
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