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Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin
Autoren: Kathleen Kent
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Erhängten werden abgeschnitten und entweder an ihren Lumpen oder am Strick des Henkers zu einem flachen Grab gezerrt. Dort wirft man sie einfach hinein und scharrt ein wenig Erde darüber. Die Erdschicht ist so dünn, dass Körperteile herausschauen. George Burroughs, dem man als Beute Hemd und Hose weggenommen hat, liegt in einem felsigen Grab, sodass sein Kinn und eine seiner Hände hervorlugen. Die Leiche krümmt sich aus dem Boden, als wolle sie einem zuwinken. Neben ihm ist Goodman Willard begraben. Aber jetzt, pssst, das Mädchen hört zu und soll nicht erfahren, was aus Goodwife Carrier geworden ist. Sie liegt direkt daneben. Ein Bein ragt heraus, als wolle sie gleich aus dem Grab steigen.
    Als die stöhnende Frau sich mit den Fingern in den Mund greift, bete ich, wie ich noch nie zuvor gebetet habe, wir könnten miteinander tauschen. Um wie vieles lieber würde ich den Schmerz eines eitrigen Kiefers ertragen als die Last meiner Tat. Heftig bewegt sie die Hand hin und her, und ich sehe, wie ihr ein dünnes Rinnsal Blut zwischen den Fingern den Handrücken hinunterläuft. Dann schiebt sie mit der anderen Hand die Lippe beiseite und bearbeitet weiter unermüdlich ihren Zahn. Sie dreht daran herum und gräbt die Fingernägel ins Zahnfleisch, bis sie ihn aus ihrem Mund entfernt hat. Verwundert betrachtet sie das schwarze Bröckchen in ihrer Hand. Im nächsten Moment malt sich ein Ausdruck abgrundtiefer Erleichterung auf ihrem Gesicht, und sie hält mir den Quälgeist hin. Ihre blutigen Lippen lächeln. Ich kehre ihr den Rücken zu, lege mich ins Stroh und schmiege mich so eng wie möglich an Tom. Mein Dämon quält mich weiter.

    Als Dr. Ames am nächsten Tag erschien, richtete ich mich nicht auf, begrüßte ihn nicht und würdigte ihn auch sonst keines Blickes. Er erkundigte sich bei Tom, ob ich etwas gegessen hätte, und legte mir das Ohr auf die Brust, um mein Herz abzuhören. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass mir nichts fehlte, setzte er sich und nahm meine Hand. »Sarah, du musst Vertrauen haben, dass das Gericht deine Unschuld anerkennt«, sagte er. »Viele wichtige Leute haben Bittschriften an den Gouverneur geschickt. Geistliche aus Boston und auch euer Reverend Dane hat sich direkt an Reverend Increase Mather, Cotton Mathers Vater, gewandt, damit in diese Prozesse endlich Vernunft einkehrt.«
    Er senkte den Kopf, um mir in die Augen schauen zu können, und fuhr fort: »Wie haben angefangen, Geld zu sammeln, um die Kaution für eure Freilassung und auch die der anderen Kinder aufzubringen.«
    Ich stellte mir vor, wie ich in das heruntergekommene Gemäuer zurückkehrte, das einmal mein Zuhause gewesen war. Die vernachlässigten, unaufgeräumten Zimmer. Den mit Asche und Ruß verkrusteten Kamin, der so lange von niemandem mehr gefegt worden war. Die überwucherten, verwilderten Felder, die von einem Mann allein nicht bestellt werden konnten. Fünf einsame Menschen, die durch die Räume geisterten, in denen immer jemand fehlen würde, und die sich vergeblich nach dem Grab sehnten, um ihrer Verzweiflung ein Ende zu machen.
    »Sarah, ich weiß, dass du um deine Mutter trauerst. Aber sie ist jetzt an dem Ort, an den wir alle einmal hinzukommen hoffen.«
    »Sie liegt in einer flachen Grube«, erwiderte ich matt und tonlos. Dr. Ames ließ den Blick über die anderen Frauen schweifen, runzelte kopfschüttelnd die Stirn und sah sie strafend an. »Euer Vater hat sie nicht in diesem schrecklichen Grab liegen lassen«, flüsterte er, damit nur Tom und ich ihn hören konnten. »Er hat sie richtig beerdigt, das schwöre ich euch. Gemeinsam mit vielen anderen Familien ist er im Schutze der Dunkelheit zurückgekehrt. Sie alle haben ihre geliebten Angehörigen an einem geheimen Ort bestattet.«
    Als ich mir ausmalte, wie mein Vater zum Galgenhügel schlich und die starre Leiche meiner Mutter aus der Grube hob, erschauerte ich. Dr. Ames zog das Umschlagtuch fester um mich, blieb schweigend eine Weile neben mir sitzen und hielt meine Hände. Ich spürte, wie mir von der Berührung seiner Finger die Augen zufielen, und ich sehnte mich so sehr danach, endlich einmal friedlich und ungestört zu schlafen. »Ich schlafe, wehe, wenn du mich weckst«, hatte Vater stets auf Walisisch unter der Decke hervorgeknurrt, wenn Mutter ihn am Sabbat aus dem Bett holen wollte. Doch er meinte damit einen Schlaf wie aus dem Märchen, tief und verzaubert, ein seliges Versinken im Nebel, das die Zeit überdauern würde. Ich spürte, wie
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