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Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin
Autoren: Kathleen Kent
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brauchen Tom hier, damit er auf der Farm hilft. Richard ist fort und Andrew …« Als sie innehielt, wusste ich, was sie meinte. Andrew würde bald sterben, und falls er doch überlebte, würde er monatelang bettlägerig sein, was hieß, dass Tom und Vater die Feldarbeit allein schultern mussten. Tom stand schweigend da und betrachtete mich mit den Augen eines Menschen, der gerade eine Halde aus gemahlenem Schiefer herunterrutscht. Im nächsten Moment klopfte es laut an die Tür. Ein hünenhafter mürrischer Mann kam herein und stellte sich als der Wachtmeister vor. Die Quarantäneanordnung in der einen und ein in Essig getränktes Taschentuch in der anderen Hand, marschierte er auf Andrew zu, der stöhnend auf seiner Pritsche lag. Sein zernarbtes Gesicht sah genauso aus, wie Andrew es beschrieben hatte, und war der Beweis dafür, dass manche Menschen die Pocken durch die Gnade Gottes oder den Schutz des Teufels überlebten. Laut verlas er die Anordnung, die an die Tür des Versammlungshauses angeschlagen werden würde, damit auch alle im Bilde waren und wir nicht die Möglichkeit bekamen, »die Erkrankung durch böswillige Nachlässigkeit zu verbreiten«. Als ich mich in dem ordentlichen kleinen Zimmer meiner Großmutter umsah, konnte ich nirgendwo ein Anzeichen von Nachlässigkeit entdecken, nur Ordnung, Nüchternheit und Ruhe. »Gott sei Ihnen gnädig«, murmelte der Wachtmeister im Gehen.

    Zitternd kauerte ich, unter Stroh versteckt, im Karren und hielt die sich unruhig sträubende Hannah fest umklammert. Da wir trotz der Quarantänebestimmungen fort wollten, mussten wir uns wie Diebe im Schutz der Dunkelheit davonstehlen. Wenn man uns erwischte, würde die ganze Familie ins Gefängnis wandern. Das hieß, diejenigen von uns, die noch am Leben waren, nachdem die Pocken sich an uns ausgetobt hatten. Mit fest zusammengepressten Lippen hatte Mutter mir ein Päckchen mit Lebensmitteln und einige Kleidungsstücke gereicht. Eigentlich hatte ich mit einigen tröstenden Worten für mich und Hannah gerechnet. Doch sie rückte nur mit fester Hand meine Haube zurecht. Allerdings verharrten ihre Finger etwas länger als sonst an den Schnürbändern.
    Großmutter hatte die Fingerknöchel auf den Mund gedrückt. Sie gab mir ein kleines Päckchen. »Jetzt ist wohl der richtige Zeitpunkt, dir das zu schenken«, sagte sie. Als ich es auswickelte, hatte ich eine voll bekleidete Puppe in der Hand. Die Wollsträhnen auf ihrem Kopf waren rötlich eingefärbt, sodass sie meinen Haaren ähnelten. Der Mund bestand aus winzigen Stichen.
    »Aber sie hat gar keine Knopfaugen«, sagte ich. Großmutter lächelte und küsste meine Hände.
    »Ich hatte keine Zeit mehr, sie zu Ende zu nähen. Wenn du wieder zurück bist, holen wir das nach«, flüsterte sie.
    Tom winkte bedrückt, und Vater ruckte an den Zügeln. Dann brachen wir auf in Richtung Süden, zurück nach Billerica. Wir waren noch nicht weit gekommen, als wir hörten, dass Tom uns rief. Er rannte dem Karren nach, drückte mir etwas in die Hand und schloss meine Finger darum, damit ich es nicht fallen ließ. Im nächsten Moment machte er kehrt und lief zum Haus. Als ich meine Faust öffnete, entdeckte ich zwei kleine weiße Knöpfe, die er von seinem einzigen guten Hemd abgerissen hatte. Wie zwei Perlen ruhten sie in meiner Handfläche. Während des langen Winters befürchtete ich oft, der Wind könnte den Weg in Toms offene Ärmel finden, sodass er die bittere Kälte noch mehr spürte.

2
    Dezember 1690 - März 1691
    I n Massachusetts gibt es Winterabende, an denen kein Wind weht und die Kälte unter der gefrorenen Schneedecke gefangen zu sein scheint. Und wenn der Mond dann zu drei Vierteln voll ist, taucht er die Erde in ein warmes Licht. So klar war dieses Licht, dass ich die dunklen Umrisse eines Hasen erkennen konnte, der über das Feld hoppelte und den todbringenden Klauen der Eule trotzte. Vater hatte den langen, zerkratzten Kolben seiner Flinte auf dem Schoß liegen, und ich fragte mich, ob er es wohl bedauerte, auf diese Beute verzichten zu müssen. Oft hatte ich Richard prahlen hören, Vater könne mit tödlicher Treffsicherheit bis zu achtzig Meter weit schießen. Außerdem sei er in der Lage, innerhalb einer Minute nachzuladen und vier Schuss abzugeben, während die meisten Männer in dieser Zeit bestenfalls drei schafften.
    Die Landschaft war grabesstill, und wenn wir an einem dunklen Haus vorbeikamen, hielten wir jedes Mal den Atem an. Das Klappern des Zaumzeugs war
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