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Die Stunde des Fremden

Titel: Die Stunde des Fremden
Autoren: West Morris L.
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schien, als wolle er um jeden Preis einen offenen Streit vermeiden.
    »Also, dann lassen Sie uns sagen, nach Ansicht einiger Leute, beispielsweise nach Ansicht meiner Regierung, ist Orgagna der Schlüssel zur Einigkeit. Er hat Verbindungen nach rechts und nach links, er ist ein geübter Unterhändler. Er hat das gewisse Etwas, das die Wähler beeindruckt. Nehmen Sie ihn weg – dann bleibt nichts als Mittelmaß. Verstehen Sie, was ich meine?«
    Ashley brauste auf. »Das verstehe ich nur zu gut! Sie wollen, daß ich meine Reportage unter den Tisch fallen lasse, damit ein Meisterdieb einen Ministerposten in der italienischen Regierung bekommen kann.« Er lachte bitter auf. »Das ist eine verdammt krasse Zumutung.«
    Das sanfte, knabenhafte Gesicht lächelte entwaffnend.
    »Ich habe keine Wahl, Ashley. Wenn ich Sie bestechen könnte, täte ich's. Wenn ich Sie erpressen könnte, täte ich's auch. Aber unter den gegebenen Umständen ist die Wahrheit meine einzige Waffe. Ich gebrauche sie, so gut ich kann.«
    Ashley blieb stehen und wandte sich ihm zu.
    »Sehr schön! Ich gestehe Ihnen zu, daß Sie das ernst meinen. Aber jetzt will ich Ihnen mal sagen, was Sie wirklich von mir verlangen. Sie verlangen von mir, daß ich ein Verbrechen decke – eine ganze Serie von Verbrechen. Und das aus politischen Gründen.«
    »Nennen Sie es, wie Sie wollen. Ich möchte allerdings etwas hinzufügen: aus politischen Gründen, von denen die europäische Sicherheit abhängen kann.«
    Ashley starrte ihn einen Augenblick mit halboffenem Mund an, dann platzte er heraus.
    »Gott – wie ich die Engländer liebe! Sie sind wahrhaftig die moralischste Nation der Welt – die königliche Familie, die Hochkirche und das geheiligte Ritual des Cricketspiels! Dabei ist eure ganze Geschichte nichts als eine Kette wirtschaftlicher Unmoral und politischer Mätzchen. Eure Helden sind Seeräuber und Schwätzer. Eure Heiligen Exzentriker und Anarchisten. Im Parlament predigt ihr Moral, und im konservativen Klub plant ihr eure Kriege. Ihr ereifert euch über Wallstreet und den amerikanischen Expansionismus, während eure eigenen Geschäftsleute Piraten in gestreiften Hosen sind.«
    Harlequin zuckte mit keiner Wimper.
    »Ein recht extremer Standpunkt«, sagte er. »Und jetzt ist eigentlich kaum die Zeit, sich darüber zu streiten. Mir scheint, wir reden aneinander vorbei.«
    »Durchaus nicht.«
    »Sie sprechen von Moral, ich spreche von Politik. Das schließt einander aus.«
    »Da irren Sie sich sehr, und Sie wissen es auch.«
    »Aber keineswegs. Politik ist die Kunst, unvollkommene Menschen mit unvollkommenen Systemen zu regieren.«
    »Es ist jedenfalls schlechte Politik, falsche, käufliche Männer in Machtpositionen zu manövrieren.«
    »Nicht unbedingt. Falsche Männer kann man dirigieren, käufliche Männer kann man kaufen. Es ist die Aufgabe des Diplomaten, sich die Furcht des Lügners und die Gier des Diebes nutzbar zu machen.«
    »Und wo bleibt die Wahrheit?«
    »Die Wahrheit?« George Harlequin hob die Schultern. »Die Wahrheit, mein lieber Ashley, ist ein Luxus, den sich nur leisten kann, wer nichts mit ihren Folgen zu tun hat.«
    »Was soll das heißen?«
    »Das soll heißen, daß Sie persönlich kein Interesse an Italien oder, wenn Sie so wollen, an Europa haben. Ihre Reportage kann die wankende Regierung zu Fall bringen, kann das Land in wirtschaftliches und politisches Chaos stürzen und jahrelange Arbeit für die europäische Verteidigung und die Mittelmeer-Strategie zunichte machen. Und Sie können nächste Woche nach Indien, Australien oder Java fliegen, an Leib und Seele unberührt von all dem.«
    »Ihnen hingegen geht alles sehr zu Herzen?« Ashley grinste ihn höhnisch an.
    Der kleine Mann überlegte seine Antwort genau.
    »Zumindest dienstlich, jawohl. Ich bin nicht nur ein Beobachter wie Sie. Ich bin Mitwirkender. Ich bin in die Sache verwickelt, weil mein Land darin verwickelt ist, weil ich fünfzig Kilometer von der Küste Europas entfernt lebe, und weil es von der europäischen Politik abhängt, ob ich trocken Brot oder Schinken mit Eiern zum Frühstück habe. Sie sind die Presse, und Sie können sich's leisten, mit der Wahrheit hausieren zu gehen. Ich bin der Mann, der mit Lügen leben, sich mit Ungerechtigkeiten abfinden und mit der Korruption Kompromisse machen muß, weil das nun mal Faktoren des menschlichen Gemeinschaftslebens sind.«
    »Sie und Leute Ihresgleichen machen die Ungerechtigkeiten erst möglich dadurch, daß Sie
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