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Die Stunde der toten Augen

Die Stunde der toten Augen

Titel: Die Stunde der toten Augen
Autoren: Harry Thürk
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Ausbildung ging er mit ihnen in eine Kneipe am Rand der Lüneburger Heide. Einen Kilometer von dieser Kneipe entfernt lag ein Arbeitsdienstlager, in dem zweihundert Mädchen untergebracht waren. Die Mädchen bekamen nur Ausgang, weil Timm eine Kiste Wein zu der Lagerführerin hatte schaffen lassen. Er lud die Mädchen zu einer weiteren Kiste Wein ein, die noch aus Frankreich stammte. Als er dreimal mit der stillen, blonden Apothekerstochter aus Barmen getanzt hatte, sagte das Mädchen: „Ich habe sehr viel Achtung vor Ihnen. Sie haben ein gefährliches Leben. Ich hätte nie gedacht, daß ich einmal mit so vielen Fallschirmjägern zusammentreffen würde. Es gibt sicher nicht sehr viele von ihnen?"
    Timm bemerkte, daß sie noch zuwenig Wein getrunken hatte. Er goß ihr ein und sagte gelangweilt: „In vierzehn Tagen wird es noch weniger von uns geben. Trinken wir einstweilen einen darauf."
    Als das Mädchen betrunken war, erzählte es von ihrem Verlobten.
    „Oh", machte Timm, „das ist ja ganz neu. Sie tragen doch gar keinen Ring..."
    „Nicht nötig", sagte das Mädchen, „den trage ich im Herzen. Er ist bei der Infanterie."
    „Wunderbar!" lachte Timm. „Bei der Königin der Waffen! Trinken wir einen auf ihn!"
    „Er schreibt mir oft", sagte das Mädchen. „Er ist auf dem Balkan. Ich weiß nur nicht genau wo."
    „Trinken wir einen darauf, daß es ihm gut geht."
    Hinter der Kneipe lag der Garten, und hinter dem Garten begannen die Büsche. Sie säumten den Weg, der zum Lager der Mädchen führte. Der Weg war lang. Es war eine warme Nacht. „Ich heiße Ursula...", flüsterte sie, als Timm sie untergefaßt neben sich herschob.
    „In Ordnung", gab er zurück, „ich heiße Klaus. Bist du auch so müde wie ich?"
    „Furchtbar müde." Sie war betrunken.
    „Laß uns ein bißchen ausruhen, nachher geht's besser."
    Sie waren nicht das einzige Paar. Als er das Mädchen losließ, torkelte es zwischen die Büsche. Er fing es rasch auf und ließ es behutsam zu Boden gleiten. Es war weicher, ein wenig staubiger Heideboden. Es roch nach Heidekraut und Schafgarbe.
    „Du ... das darfst du nicht...", flüsterte das Mädchen. Es sprach sehr leise, als müsse es darauf achten, daß niemand es hörte.
    „Ich darf das nicht", sagte Timm, „aber es ist ganz schön, wenn man es tut. Himmel, habt ihr alle so viel an bei dieser Hitze?"
    Das Mädchen bewegte sich schwach. Es hatte Angst und wollte das alles nicht mittun, aber es war viel zu spät, das zu überlegen, und Klaus Timm wußte genau, wie spät es war.
    „Aber ich kann ... nein ...", stotterte das Mädchen. Timm brummte irgendetwas Beruhigendes zur Antwort. Er war mit seinen Gedanken woanders. Und doch flogen seine Gedanken ganz plötzlich zu diesem Mädchen zurück, das er hielt. Mit geschlossenen Augen dachte er eine Sekunde lang: Zwei Kisten Wein und ein Mädchen, das noch keinen Mann gehabt hat. Später, als er mit ihr in der Nähe des Lagers angelangt war, wo ringsum die anderen von ihren Mädchen Abschied nahmen, fragte er sie: „Sag mir, ist das wahr gewesen mit deinem Verlobten, oder ..."
    Das Mädchen sah ihn nicht an, aber sie nickte ein paarmal, und dann kamen ihr die Tränen. Sie sagte schnell und sehr leise: „Ja ..." Dann drehte sie sich um und lief davon. Timm sah, wie sie den Kopf senkte und das rote Kopftuch unter dem Kinn zusammenhielt.
    Er lachte lautlos und brannte sich eine Zigarette an. Er rauchte sie halb auf, dann fiel ihm plötzlich ein, daß er allein stand. Er sah sich um. Hier und dort erblickte er ein paar Gestalten, die beieinander standen. Da zog er das Koppel stramm und schrie unvermittelt mit seiner hellen, schneidenden Stimme: „Los! Auf, ihr Scheiche! Macht Schluß, wir marschieren ab!"
    Acht Tage später saß er mit den anderen in der Maschine, und die Hupe ertönte. Er erhob sich und blieb am Schott stehen, auf den nächsten Hupenton wartend.
    „So", sagte er dabei, „jetzt werden wir denen da unten zeigen, was Krieg ist, bis sie nicht mehr wissen, ob sie das Vaterunser in der Schule gelernt haben oder im Hurenhaus!"
    Unter ihnen lagen die Gebirge von Kreta.
    Timm durchstreifte diese Gebirge, nachdem in den Tälern und um die Stützpunkte herum der Kampf beendet war. Er haßte die Ruhe. Er wußte, daß es in den Gebirgen noch Wild zu jagen gab. Menschliches Wild.
    Mittag. Keine Wolke über dem Blau des Himmels. Jeder Stein ist so heiß, daß man glaubt, auf einem geheizten Ofen zu liegen. Timm hat längst die Orientierung
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