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Die Stalingrad-Protokolle: Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht (German Edition)

Die Stalingrad-Protokolle: Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht (German Edition)

Titel: Die Stalingrad-Protokolle: Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht (German Edition)
Autoren: Jochen Hellbeck
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deutschen Artilleriebeschuss. Die beiden ersten Dampfer überstanden den Beschuss, die »Josef Stalin« lief beschädigt auf Grund und wurde weiter beschossen. Von den 1200 Passagieren konnten nur 186 gerettet werden. [295]   Bis zum 14. September, dem Tag, als deutsche Truppen in das Stadtinnere eindrangen und zur zentralen Fährstelle vorstießen, wurden 315000 Menschen evakuiert. Einer Schätzung zufolge befanden sich zu dem Zeitpunkt noch ebenso viele Menschen in der Stadt. [296]   Nun setzten sich auch Tschujanow und die meisten anderen örtlichen Parteichefs sowie der Leiter des NKWD ab.
    Die großen Industriewerke in der Stadt, der »Rote Oktober«, die »Barrikaden«-Fabrik, das Traktorenwerk und das »Stalgres«-Elektrizitätswerk, hielten ihren Betrieb zum Teil noch sehr viel länger aufrecht. Das Elektrostahlwerk »Roter Oktober«, das bis zum Sommer 1942 10% der gesamten sowjetischen Stahlproduktion stellte und besonders die Flugzeug- und Panzerindustrie belieferte, daneben aber auch Raketenwerfer produzierte, stellte seine Tätigkeit nach der Verhängung des Belagerungszustands auf die Herstellung von MG-Nestern, Panzersperren und Schaufeln und die Reparatur von Panzern und Raketenwerfern um. Die Metallproduktion im Werk lief bis zum 2. Oktober, wenige Tage später wurde es geräumt. [297]   Das Werksgelände war vom Oktober 1942 bis Anfang Januar 1943 schwer umkämpft und befand sich dabei überwiegend in deutscher Hand. Die Geschützfabrik »Barrikaden« produzierte seit Anfang des »Großen Vaterländischen Krieges« Panzerabwehrkanonen und Minenwerfer in großer Stückzahl. Der Direktor verließ das Werk am 25. September, die letzten Techniker gingen am 5. Oktober. Am Vortag hatten die Deutschen ihren Angriff auf das Werk begonnen (siehe Grossmans Erzählung »Hauptstoßrichtung«, S.235ff.). [298]  
    Die riesige Stalingrader Traktorenfabrik mit 20000 Beschäftigten hatte ihre Produktion schon Ende der dreißiger Jahre von Traktoren auf Panzer umgestellt und war nach Kriegsausbruch der größte sowjetische Hersteller von T-34-Panzern. Mit dem Vorstoß der 16. Panzerdivision zur Wolga am 23. August rückte die Front in unmittelbare Nähe des Werksgeländes, doch wurden bis zum deutschen Angriff auf die Stadt am 13. September weiterhin Panzer produziert. Erst in den Tagen danach wurde das Gros der überlebenden Arbeiter aus dem Werk evakuiert. Die 62. Armee behielt ein kleines Kontingent von Arbeitern zurück, das für die Panzerregimenter Reparaturarbeiten ausführte. Der deutsche Großangriff vom 14. Oktober, den General Tschuikow im Gespräch ausführlich schildert, konzentrierte sich auf das Traktorenwerk. Von dort aus sollten die deutschen Divisionen nach Süden vorstoßen und die letzten von den Sowjets gehaltenen Streifen am Wolgaufer einnehmen. In Kämpfen, die sowjetische wie deutsche Zeitzeugen als die schwersten Kämpfe der gesamten Schlacht von Stalingrad beschreiben, geriet das Werk bis zum 17. Oktober vollständig in deutsche Hand. Dabei verlor die 62. Armee 13000 und die Wehrmacht 1500 Soldaten. Erst am 2. Februar 1943 eroberte die Rote Armee das Werksgelände zurück. [299]  
    Das städtische Elektrizitätswerk »Stalgres« befand sich im südlichsten Stadtzipfel nahe Beketowka, mehrere Kilometer abseits der Frontlinie. In das relativ sichere Beketowka verlegte Tschujanow im Oktober den Sitz seiner Parteibehörde. Hier befand sich auch das Hauptquartier der 64. Armee. Nach dem Einrücken der Deutschen in die Stadt am 13. September kam das »Stalgres« in die Reichweite von Artilleriefeuer und Minenwerfern und wurde täglich beschossen, doch wurde der Betrieb nicht eingestellt. Erst ein deutscher Großangriff am 5. November setzte das E-Werk außer Betrieb. Am 12. Oktober notierte Tschujanow in seinem Tagebuch, dass der Chefingenieur Konstantin Subanow im Keller des Elektrizitätswerks unter anhaltendem Artilleriefeuer seine Hochzeit mit der Ärztin Maria Terentjewa begangen hatte. [300]   Subanow ist einer der Zeitzeugen, mit dem die Historiker in Stalingrad sprachen. Wie er seine Bindungen zum Betrieb beschreibt und den elektrischen Puls des Werks mit dem Pulsschlag der Stadt assoziiert, erinnert an die futuristischen Strömungen des frühen 20. Jahrhunderts, die in der russischen Arbeiterschaft tiefe Wurzeln hatten. [301]   Subanows Metapher könnte aber auch auf die bekannten Metronomschläge im Leningrader Radio während der Blockade verweisen. Die
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