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Die Sklavin des Sultans: Roman (German Edition)

Die Sklavin des Sultans: Roman (German Edition)

Titel: Die Sklavin des Sultans: Roman (German Edition)
Autoren: Jane Johnson
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sie einen runden Baldachin aus Stoff an einem langen Stiel, der sie vor dem heftigen Regen schützt.
    »Was zum Teufel ist denn das?«, fragt Harvey.
    »Ich glaube, eine Art Schutzhaube«, meint Reverend Ebslie.
    »Nicht das Gerät, du Dummkopf, das Ding, das es trägt. Seht nur, es sucht sich einen Weg wie ein dressiertes Pony.«
    Behutsam tappt die Gestalt zwischen den Pfützen entlang. Über den mit Juwelen besetzten babouches trägt sie ein Paar hoher Holzschuhe, an denen der Schlamm gierig saugt. Die Arbeiter beobachten ihren Fortschritt mit wachsender Faszination, und es dauert nicht lange, bis sie anfangen zu johlen.
    »Spinner!«
    »Lustbengel!«
    Es ist ein seltenes Vergnügen, einen Bruchteil ihrer Qualen auf jemand anderen übertragen zu können, selbst wenn die Zielscheibe ihres Spotts ein Fremder ist, der ihre Beschimpfungen gar nicht versteht.
    »Eitler Geck!«
    »Lilienweiße Tunte!«
    »Nichts Halbes und nichts Ganzes!«
    Als hätte diese letzte und harmloseste Bemerkung ins Schwarze getroffen, hält der Höfling plötzlich mitten in der Bewegung inne und schaut zu ihnen auf, wobei er die lächerliche Vorrichtung zur Seite schwenkt. Sollten seine Bewegungen oder seine Kleidung den Eindruck von Weiblichkeit erweckt haben, so wird dieser jetzt durch das Gesicht widerlegt. Lilienweiß ist es sicher nicht und weiblich erst recht nicht. Es sieht aus, als wäre es aus Obsidian geschnitzt oder aus einem harten, vom Alter geschwärzten Holz. Wie eine Kriegsmaske, grimmig und reglos; nichts deutet auf den Menschen darunter hin, abgesehen von der drohenden weißen Linie unter der dunklen Iris des Auges, als der Blick des Mannes über sie wandert.
    »Ihr solltet besser darauf achten, wen ihr beleidigt.«
    Ein schockiertes Schweigen fällt über die Gruppe von Sklaven.
    »Ich muss nur mit den Fingern schnippen, und schon sind die Aufseher da.«
    Im Schutz einer Türöffnung, etwa dreißig Meter entfernt, sind vier Männer dabei, Tee zu kochen. Der Dampf aus dem Kessel wabert um sie herum, sodass sie beinahe gespenstisch wirken. Doch der Eindruck des Unwirklichen trügt: Würde man sie auffordern, ihres Amtes zu walten, würden sie ihren Tee auf der Stelle vergessen und sich in die Welt von Männern, Peitschen und Knüppeln stürzen.
    Die Gefangenen treten beunruhigt von einem Fuß auf den anderen; zu spät haben sie den folgenschweren Irrtum bemerkt. Normalerweise spricht kein Mensch in diesem gottverlassenen Land Englisch!
    Der Höfling betrachtet sie gleichmütig. »Diese Männer wurden wegen ihrer Skrupellosigkeit ausgewählt. Sie haben keinen Funken Menschlichkeit mehr. Man hat sie darauf abgerichtet, die Faulen und Ungehorsamen gnadenlos zu bestrafen. Sie würden euch ohne die geringsten Bedenken umbringen und eure Leichen in den Mauern vergraben, die ihr gerade wiederaufbaut. An Nachschub für euch mangelt es nicht. In Meknès ist ein Leben nicht viel wert.«
    Die Gefangenen wissen, dass er die Wahrheit sagt. Verzweifelt richten sich aller Augen auf ihren Sprecher Will Harvey – immerhin war es seine Schuld, weil er als Erster ihre Aufmerksamkeit auf den Mann gelenkt hat. Doch sein Kopf bleibt gesenkt, als erwartete er einen Schlag. Niemand spricht ein Wort. Die Spannung ist beinahe mit Händen zu greifen.
    Am Ende hebt Harvey den Kopf. Sein Ausdruck ist stur. »Bist du ein Mann? Oder ein Teufel? Würdest du uns wegen ein paar unbedachter Worte sterben lassen?«
    Den anderen bleibt die Luft weg, aber einen Augenblick lang schenkt ihm der Höfling ein düsteres Lächeln. »Ob ich ein Mann bin? Ah, das ist eine gute Frage …« Er macht eine Pause und gewährt ihnen einen langen Blick auf seinen mit Gold geschmückten Umhang, die kostbaren Armreife an den muskulösen Unterarmen, den silbernen Ring an seinem linken Ohr. »Ich bin nichts Halbes und nichts Ganzes, ein Nichts, ein Sklave so wie ihr. Ihr solltet dankbar sein, dass sie mir das Herz ließen, als sie mich verstümmelt haben.« Damit richtet sich der Baldachin wieder auf und verbirgt sein Gesicht.
    Keiner der Gefangenen spricht, niemand weiß, was damit gemeint sein kann. Sie sehen zu, wie der Höfling seinen Weg durch den Schlamm vorsichtig fortsetzt und auf den breiten Streifen unbebautes Land zusteuert, der sich zwischen dem Palast und der Medina erstreckt. Er kommt an den Aufsehern vorbei und bleibt stehen. Sie halten den Atem an. Ja, es ist eindeutig, man tauscht Grüße aus, mehr nicht. Schließlich nehmen sie ernüchtert und in dem
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