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Die seltene Gabe

Die seltene Gabe

Titel: Die seltene Gabe
Autoren: Arena
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austranken, sondern danach auch noch auffraßen? Mir schwirrte der Kopf. Einen flüchtigen Moment lang fragte ich mich, ob der ganze Trubel in der Stadt, dieses ungewöhnliche Aufgebot an Polizei und Streifenwagen, womöglich diesem Dieb gelten mochte. Aber dann verwarf ich diesen Gedanken sofort wieder. Hunderte von Polizisten, um einen Käsedieb zu fangen? Lächerlich. Vielleicht gab es ja eine andere, völlig harmlose Erklärung. Vielleicht war ich schlafgewandelt und hatte all das Zeug irgendwann nachts verdrückt? Bloß mag ich gar keine Blutwurst, jedenfalls nicht, wenn ich wach bin. Mein Vater kauft die immer in rauen Mengen, und er schwört darauf, dass sie monatelang hängen und trocknen muss, bis sie die Konsistenz von Lederschnürsenkeln hat. Dann sei sie ein Hochgenuss. Findet er. Als ich an Vater denken musste, musste ich auch an Mutter denken, und auf einmal wurde mir klar, dass ein Einbrecher sich kaum um die kargen Taschengeldersparnisse in Geheimfächern von Schreibtischen in Mädchenzimmern kümmern würde, sondern dass er nach richtig wertvollen Dingen suchen musste, damit die Sache sich lohnte. Das Haushaltsgeld im Wäscheschrank. Den Schmuck der Dame des Hauses. Solche Dinge. Meine Mutter besaß in dieser Hinsicht einiges. Vater ist Abteilungsleiter in der größten Maschinenbaufirma des Ortes und da finden immer wieder irgendwelche Empfänge oder Bankette oder was weiß ich statt, und bei solchen Gelegenheiten kann sich Mutter aufbretzeln, dass einem die Augen herausfallen.
    Ich überlegte, wo sie ihre Schmuckschatulle aufzubewahren pflegte, und glaubte mich zu entsinnen, dass sie entweder in ihrem Nachttisch oder im Schrank bei der Bettwäsche zu finden sein musste. Ich krallte den Schürhaken und marschierte hinüber ins Schlafzimmer meiner Eltern. Auch hier war alles in einwandfreiem Zustand. Ich zog Mutters Nachttischschublade auf und öffnete das Klappfach darunter, aber da war nur allerlei Krimskrams, keine Schmuckschatulle. Also im Schrank. Ich ging zum Schrank und öffnete die Tür, und dann ging alles so schnell, dass ich mich nicht mehr an Einzelheiten erinnere. Ich weiß nur, dass ich ins obere Schrankfach blickte und nach der flachen, silbern schimmernden Kassette Ausschau hielt und stattdessen die ganzen Kleider meiner Mutter dort sah, achtlos über die Stapel weißer Bettwäsche gestopft, und ehe ich den Blick senken konnte dorthin, wo diese Kleider auf Bügeln hätten hängen müssen, kam mir eine dunkle Gestalt aus dem Schrank entgegen, ein torkelnder menschlicher Körper, der einen erstickten Laut der Überraschung von sich gab, als er hochkam. Ich sprang zurück, während der Schatten die zweite Schranktür aufstieß, und meine Hände, den Schürhaken umklammernd, diesen wie aus eigenem Entschluss in die Höhe rissen, schlagbereit hoch über den Kopf, und im Rückwärtsgang zur Tür stolpernd schrie ich, erfüllt von panischem Entsetzen, ir gendetwas wie »Stehen bleiben oder ich schlage zu!«. Er blieb tatsächlich stehen, verharrte mitten in der Bewegung, geduckt und noch halb im Schrank stehend. Es war ein Junge. Nur ein ganz gewöhnlicher Junge. »Bleib, wo du bist«, sagte ich, diesmal mit etwas ruhigerer und, wie ich hoffte, drohenderer Stimme. Er wirkte nicht besonders gefährlich, dem Aussehen nach konnte er kaum älter sein als ich selber, aber andererseits weiß man ja nie. Ich wich jedenfalls zurück, bis ich den Türrahmen im Rücken spürte, erst dann hatte ich das Gefühl, die Situation einigermaßen im Griff zu haben. »Was hast du hier zu suchen?«, fragte ich finster. Er starrte mich mit großen, schlafverquollenen Augen an. Offenbar hatte er geschlafen, als ich die Tür geöffnet und ihn damit geweckt hatte. Erst jetzt sah ich, dass er sich auf dem Schrankboden mit einigen Decken, deren Verschwinden mir noch gar nicht aufgefallen war, ein richtiggehendes Nest eingerichtet hatte, auf dem man sicher nur mit einigen Verrenkungen liegen konnte – der Kleiderschrank meiner Mutter ist groß, aber so groß nun auch wieder nicht. In der Ecke dahinter erspähte ich eine Milchtüte und abgefressene Traubenstiele, die auf dem zerknüllten Einpackpapier von Erdbeerschokolade lagen, und damit war mir klar, was es mit den geheimnisvollen Vorgängen in der Speisekammer auf sich hatte. »Los, antworte!«, drängte ich. »Wie kommst du dazu, dich hier bei uns im Schrank zu verstecken? Was sol l das? « »Mon dieu«, hörte ich ihn murmeln. »Ein Mädchen! « Diese
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