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Die Seidenstickerin

Die Seidenstickerin

Titel: Die Seidenstickerin
Autoren: Jocelyne Godard
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ernster Stimme:
    »Könnt Ihr mir sagen, ob es noch weit ist bis zur ›Goldenen Henne?‹«
    »Nein, mein Herr, da kommen wir gerade her«, antwortete Louise und musterte den Mann, den diese Antwort nicht zu erstaunen schien.
    »Habt Ihr dort vielleicht eine junge Person namens Alix Cassex gesehen, gnädige Frau?«
    »Das bin ich«, sagte Alix und kam noch etwas näher. »Was wollt Ihr von mir, mein Herr?«
    Er wiederholte seinen Gruß und sagte:
    »Ich hatte leider nicht das Vergnügen, Euren Gatten in Tours zu treffen. Als ich in seiner Werkstatt war, hat man mir gesagt, er sei auf dem Weg nach Orléans.«
    »Das stimmt. Er muss eine kleinere Tapisserie an den Vogt von Orléans ausliefern.«
    »Ich habe dann auch erfahren, dass ich Euch in Gesellschaft der Gräfin d’Angoulême im Gasthaus ›Zur Goldenen Henne‹ antreffen würde.«
    »Ja«, sagte Alix und lächelte den Reiter an, »das hier sind die Gräfin d’Angoulême und ihre Kinder, Marguerite und François.«
    »Anstatt auf Euren Mann zu warten, von dem man nicht wusste, ob er noch heute Abend oder erst morgen früh zurückkommt, habe ich mich dann lieber hierher auf den Weg gemacht.«
    »Und was führt Euch nun zu mir, mein Herr? Ich habe keine Geheimnisse vor der Gräfin. Bitte stellt Euch jetzt vor, mein Herr.«
    »Mein Name ist Meister Van Orley.«
    »Seid Ihr etwa der berühmte Maler und Kartonzeichner?«
    Dem Reiter war die Bewunderung in Alix’ Blick nicht entgangen, und er verneigte sich höflich.
    »Ja, der bin ich. Ich komme gerade aus Italien, genauer gesagt, aus Rom zurück.«
    »Dann lebt Ihr also nicht mehr in Flandern? Mein Mann hat mir viel von Euch erzählt. Er hält große Stücke auf Euch und Euer Talent – ich übrigens auch.«
    »Ich wusste gar nicht, dass der junge Jacquou, dem ich dreioder viermal in Brügge begegnet bin, schon verheiratet ist. Eigentlich wusste ich allerhand nicht. Zum Beispiel, dass er der Sohn des großen Meisters Coëtivy ist, der in Flandern hohes Ansehen als Maler und Weber genießt.«
    »Ja, das stimmt, mein Herr. Weil aber der Webermeister Jacquou ein sehr bescheidener Mensch ist, bin ich kühn und mutig für zwei. Das hat mich auch schon in größte Verlegenheit gebracht, hilft mir aber auch immer wieder heraus.«
    »Diese Tugend kann Euch nur ehren, Madame.«
    »Oh nein! Jacquou hat tausendmal mehr Tugenden als ich«, entgegnete sie jetzt etwas unbefangener. »Nachdem Ihr scheint’s kaum etwas über uns wisst, sage ich Euch lieber gleich, dass mein Schwiegervater und ich ein sehr schlechtes Verhältnis haben. Es ist geradezu tragisch«, spottete sie, »weil er mich hasst – und ich ihn deshalb auch. Weil Jacquou immer zu mir gehalten hat, könnt Ihr Euch vielleicht vorstellen, dass er seinem Sohn nicht hilft. Aber das kümmert uns nicht. Wir sind jung, fleißig und verstehen unser Handwerk, und ich bin außerdem sehr ehrgeizig, müsst Ihr wissen.«
    Als Alix sah, dass François und Marguerite abgesessen waren, wandte sie sich an Louise, die mit der Hand auf eine große Eiche deutete und sagte: »Unter diesem schönen großen Baum ist es angenehm schattig. Was haltet Ihr davon, wenn wir eine Pause machen und uns dort weiter unterhalten?«
     
    Sie suchten sich ein sandiges Plätzchen unter dem Baum am Ufer und setzten sich zu dem Maler.
    »Nach diesen Erklärungen über meinen Schwiegervater würde ich nun aber doch gern wissen, was Euch zu uns führt, Monsieur? Ihr sagt, Ihr seid gerade aus Italien zurückgekommen, aus Rom?«
    »Ja, genauer gesagt, aus dem Vatikan. Dort hatte ich das große Vergnügen, einige Zeit Seite an Seite mit Meister Raffael in der Sixtinischen Kapelle zu arbeiten.«
    »Das ist allerdings wirklich eine große Ehre, bei der Ihr sicher viel gelernt habt.«
    »In der Tat habe ich viel Neues kennen gelernt. In Italien verziert man zum Beispiel die Bordüren der Tapisserien nicht mehr mit Blumen und Blättern.«
    Alix hing förmlich an seinen Lippen. Konnte ihr Van Orley helfen, einen neuen Stil in der Webkunst zu finden?
    »Aber wie macht man sie dann jetzt?«
    »Mit sehr lebendigen und ausdrucksvollen Fresken, auf denen ausschließlich kleine Figuren dargestellt sind.«
    »Das klingt aber sehr interessant!«, meinte die Gräfin. »Könnte das nicht eine Möglichkeit für Euch sein, vom simplen Kopieren der Vorlagen wegzukommen, meine liebe Alix?«
    »Das glaube ich schon«, sagte Alix nachdenklich.
    »Bitte verzeiht, wenn ich mich in diese Unterhaltung einmische, aber ich bin eine
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