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Die Sehnsucht ist größer

Die Sehnsucht ist größer

Titel: Die Sehnsucht ist größer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schwarz
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wahrscheinlich gar nicht anders.
    Morgen also Santiago. Ja, ich bin ein bißchen wegsatt. Der heutige Tag war eine gute Zusammenfassung - abwechslungsreiche Wege, Schlammstrecken, abenteuerliche Steinbrücken, Nationalstraße, Dörfer, Bars,... - anderes hat gefehlt, die Einsamkeit der Bergstrecken, die Begegnung mit den Pilgern. Kurz vor Santiago pendeln sich die Tagesetappen ein, man wird nicht mehr von hinten überholt, überholt selbst niemanden mehr.
    Vorhin - in der Badewanne, das warme Wasser wohlig genießend, dachte ich mir: Den Weg möchte ich nach Abschluß des Studiums noch einmal gehen... und schauen, was sich verändert hat, wo ich mich verändert habe, wo der Weg sich verändert hat. Ich glaube, das könnte ganz spannend werden. Ich brauche den Weg nicht im nächsten Jahr schon wieder zu gehen, wie so manche Mitpilger - die Erfahrung dieser Wochen wird lange reichen. Und es würde auch meine Sehnsucht nicht stillen, wäre nur Abbild dafür. Die Sehnsucht ist größer, wie es Augustinus sagt... - aber warum eigentlich nicht in sieben oder acht Jahren nochmal den Weg gehen?
     
    Rua, 23.00 Uhr
    Eigentlich haben Christiane und ich heute abend schon gefeiert. Ein schönes, kleines Hotel, ein ausgezeichnetes Abendessen, ein guter Wein - und in unserer Ausgelassenheit haben wir einfach einen neuen Ausdruck kreiert: »Uns geht’s west!«
    Wenn morgen nicht eine von uns nochmal bös auf die Nase fliegt, dann sind wir am Nachmittag in Santiago. Und so allmählich rückt damit auch die Heimkehr, vor allem von der praktischen Seite, in den Blick. Wenn wir am Freitagmorgen fahren, dann sind wir am Samstagnachmittag daheim. Der Sonntag dann zum Ankommen und Umschalten - ich freu mich auf den Gottesdienst in meiner kleinen Gemeinde.
    Es war eine wichtige Erfahrung für mich, daß ich mich in eine mir fremde Welt und Kultur hineingegeben habe, eine andere Art zu leben ausprobiert habe, daß ich aufgebrochen und losgegangen bin, das Ziel im Auge behalten habe - und habe all das nicht nur überlebt, sondern dabei sogar sehr intensiv gelebt. Der Weg hat mich vieles gelehrt, was ich noch gar nicht in Sprache bringen kann. Ich kann nur hoffen, daß es in mein Herz geschrieben wurde...
    Neugierig schlage ich die Schriftstellen nach, die für morgen angesagt sind - und bleibe bei denen von heute hängen: »Die Vögel haben ihr Nest, die Füchse haben ihren Bau, der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann« (Mt 8,20). Schade, das wäre heute ein schönes Begleitwort gewesen. Nachfolge ist auch immer Ruf in die Unbehaustheit, die Ungeborgenheit - wobei auch die scheinbare Unbehaustheit schon wieder zum Alltag werden kann.
    Morgen, zum Einzug nach Santiago, die Schriftstelle von der Stillung des Sturms auf dem See - »was ist das für ein Mensch, daß ihm sogar die Winde und der See gehorchen?« (Mt 8,27).
    Als ich die Lesung nachschlage, muß ich doch lachen. Manchmal könnte man meinen, der Leseplan für diese Tage sei eigens für mich und meinen Weg zusammengestellt worden -aber ich bin mir ganz sicher, daß es nicht so ist. Morgen also wird mich die Stelle aus Gen 19,15-29 begleiten - der Aufbruch Lots, ein bißchen durch die Engel Gottes erzwungen - und Lots Frau, die zurückblickt und zur Salzsäule erstarrt. Und das zum Ankommen in Santiago...
    Mir wird ein bißchen seltsam zumute in diesem Moment -diese Schriftstellen in so geballter Form gerade heute abend -das berührt mich sehr.
     
     

Dienstag, 1.7.
     
     
    Rua, 8.00 Uhr
    Christiane schläft noch so schön. Derweil trink ich schon mal einen Kaffee. Mir tut es ganz gut, gerade diesen Tag mit einer halben Stunde allein für mich beginnen zu können.
    1. Juli - Santiago ist angesagt. Die letzten zwanzig Kilometer.
    Mir gehen noch die Schriftstellen von gestern und von heute nach. Die Heimatlosigkeit - die Vögel haben ihr Nest - mitten im Chaos werden die Wellen, der Sturm beruhigt - wer zurückschaut, erstarrt zur Salzsäule.
    Santiago - wozu? Um Bilder der Sehnsucht wachzuhalten, in mir und in anderen, um selbst Sehnsucht zu sein...
     
     

Mittwoch, 2.7.
     
     
    Santiago, 1.30 Uhr
    Angekommen - und doch noch nicht da. In mir ist ein seltsames Durcheinander von Traurigkeit, Angst, Freude, Zuversicht, Unzufriedenheit, Glück.
    Der Tag ging zu schnell vorbei - und erst heute abend habe ich verstanden, daß ich ihn vielleicht hätte allein gehen müssen. Ich muß für mich ankommen - das geht nicht zu zweit.
    Mitten in all diesem

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