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Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)

Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)

Titel: Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Petra Oelker
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Nachbar.
    Ja, die Sache mit dem Eis war in diesem Jahr vertrackt. Mal deckte es den Fluss sicher und hart wie Granit, mal war es brüchig, das Wetter schlug alle Tage Kapriolen, und die Alten sagten, es sei fast wie früher, als sie jung und die Winter milder gewesen waren. Was nichts zu bedeuten hatte, von jeher gaukelt das Alter den Menschen vor, früher sei alles besser gewesen, selbst denen, die in ihrer Jugend nichts als Krieg und Pestilenz erlebt hatten.
    In der Woche vor Fastnacht war das Eis überall dünn und brüchig, hatte hier und da, wo der Wind nicht so kalt darüberfegte, Löcher von schwarzem Wasser, in dem die Enten nach Würmern gründelten. Kaufleute und Reeder, Schiffer und Seeleute standen am Hafen zusammen, beobachteten, wie sich die eisige Umklammerung ihrer Schiffe löste, und nickten voller Zuversicht. Wenn es so weiterging, würde die Elbe schon bald wieder schiffbar sein. Doch es war erst Februar – am Tag des letzten Maskenballs zeigte der Winter noch einmal, was er vermochte.
    Im Theatersaal am Gänsemarkt fanden zwischen Neujahr und Fastnacht fünf Maskenbälle statt, es waren die größten in der Stadt. Als sich das Theater in dieser Nacht nach dem letzten Ball endlich geleert hatte und selbst die auf der oberen Galerie weinselig schnarchenden Gäste geweckt und aus dem Haus gescheucht waren, öffnete sich das Portal endlich auch für die etwa zwei Dutzend Frauen und Männer, die in dieser Nacht bei der Bedienung der Gäste eine einträgliche Arbeit gehabt hatten.
    Der Atem vor ihren Mündern gerann umgehend zu eisigen weißen Wölkchen, Schultertücher wurden schützend über die Köpfe gezogen, Mützen in die Stirn gedrückt, als die Gruppe sich in Grüppchen auflöste, die sich, jede von einem der wenigen Männer mit einer Laterne begleitet, in die verschiedenen Richtungen der Stadt auf den Heimweg machten. Die meisten verschwanden in Richtung Neustadt, eine kleine Gruppe in Richtung Dammtor, eine weitere eilte an Malthus’ Garten vorbei über den Jungfernstieg, wo ein schneidender Nordwind fast den Atem nahm, und teilte sich hinter der Brücke an seinem Ende für das letzte Stück des Weges. Niemand nahm sich Zeit, einen Blick auf die großen Räder der Wasserkunst zu werfen. Am Tag zuvor hatte Hoffnung bestanden, dass sie sich bald wieder drehten und Wasser in die Röhren pumpten. Das in dieser Nacht mit erschreckender Geschwindigkeit wieder gefrierende Eis sorgte dafür, dass sie auch während der nächsten Wochen stillstehen würden.
    Es war fast Mitternacht, der während der letzten Stunden gefrorene Schneematsch knirschte unter den Holzpantinen, sonst war es still. Die ganze Stadt schien zu schlafen, selbst was sich gewöhnlich um diese Stunde noch herumtrieb, Trunkenbold, Spitzbube oder heimatloser Hund, hatte sich mit der plötzlichen Rückkehr der bitteren Kälte hinter schützenden Mauern verkrochen. Nur einige der letzten Gäste des Maskenballs waren noch unterwegs. Bei der Einmündung der Großen Bleichen waren zwei Paare kichernd und schwatzend vorbeigehuscht, kurz vor der Wasserkunst eine einzelne Person, alle in dicken Mänteln und noch mit Masken, die ihre Gesichter verbargen; aus einer der Gassen klang trunkenes Johlen, das abrupt verstummte, als die Schnarren der Nachtwächter antworteten. Eine Kutsche rollte mit schwankenden Laternen und geschlossenen Vorhängen vorüber, auf dem Bock der unter einer Pferdedecke zusammengekauerte Kutscher, auf den Rücktritten zwei frierende Lakaien. Manchmal klang es nach schleichenden Schritten, irgendwo auch nach Wispern, das war nur der Wind, der über den Alstersee heranfegte und kleine Wolken von Schnee vor sich hertrieb, staubfein wie gefrorener Nebel.
    Eine der Frauen, die nun mit ihrem Begleiter am Werk- und Zuchthaus vorbei zu den Raboisen gingen, blieb plötzlich stehen und blickte zum Himmel hinauf. Die Nacht war schwarz, der Mond verbarg sich hinter einer Wolkendecke, doch die Reste von Schnee gaben ein wenig Licht, mehr als der nur glimmende Schein der Laternen an den Brücken und einigen Hausecken.
    Tatsächlich, dort flogen Wildgänse über die Stadt, majestätische dunkle Schatten, lautlos wie Gespenster. Warum flogen sie mitten in dieser eiskalten Nacht? Wohin?
    Sie spürte ein Lächeln in ihren von der Kälte steifen Wangen. Die Wildgänse waren frei, sie hielt nichts auf. Nicht die Festungsmauern mit den seit Sonnenuntergang geschlossenen Stadttoren, auch keine Pflicht. Sie breiteten einfach ihre Schwingen aus
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