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Die schwarzen Wasser von San Marco

Die schwarzen Wasser von San Marco

Titel: Die schwarzen Wasser von San Marco
Autoren: Richard Dübell
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nach. An ein paar Stellen wucherte Gras aus weiten Spalten zwischen dem Pflaster, und die Behörden hatten angeordnet, eine kleine Hand voll Bäume stehen zu lassen, die ihre frühmorgendlich langen Schatten über den Boden warfen.
    An der Westseite des Platzes, halb vor einer scheinbar neu gebauten Kirche und einem weiteren Stadtpalast, erhob sich die Bühne der Schauspieler. Diese war fast mannshoch, sodass es auch dem Hintersten eines großen Publikums möglich sein würde, die Vorführungen mitzuverfolgen. Es musste sich um eine bekannte Truppe handeln, denn ihre Bühnenausrüstung beschränkte sich nicht auf die üblichen naiv bemalten Säcke, die Wände, Säulen oder Wälder darstellten sollten – zu ihrer Bühne gehörte ein wenigstens drei Mannshöhen großer Aufbau, der weit auf den Platz hinaus mit einem Gerüst abgestützt war, eine himmelblaue protzige Bemalung zeigte und an seiner der Bühne zugewandten Seite aus Holz ausgesägte weiße Wolken an verschieden langen Stangen trug, sodass dieser Himmel tatsächlich eine Tiefenwirkung besaß und an Echtheit kaum zu überbieten war. Um die Bühne herum waren Bahnen aus Sackleinen angebracht, die bis auf den Boden reichten, und der Raum unter der Bühne diente den Männern und Frauen als Aufenthalts- wie als Schlafraum. Die meisten Stoffe waren hochgeschlagen, um das Licht des frühen Vormittags in den finsteren Verschlag zu lassen. Eine der heruntergelassenen Leinwände war mit einem Wappentuch zusammengeheftet, als legte der Besitzer des Wappens großen Wert darauf, es jedem Besucher des Schauspiels zu zeigen, und ich verbrachte einige ergebnislose Minuten damit, nachzudenken, wo ich es schon einmal gesehen hatte.
    Obwohl wir zu früh dran waren, befand sich schon eine Menge Volk auf dem Campo San Polo. Marco Manfridus drängte sich unbekümmert hindurch und interessierte sich für alles, was auch nur entfernt mit dem Treiben der Schauspieler in Verbindung zu stehen schien. Ich warf Jana einen Seitenblick zu, doch die Hast des Jungen schien ihr nichts auszumachen; sie lächelte mit erhitzten Wangen und raffte ihr Kleid, wenn der unebene Boden sie stolpern ließ.
    Die Menschenmenge hatte auch die üblichen Bettler angezogen, die sich langsamer als wir durch das Gedränge schoben und um Almosen baten. Die Krüppel hatten sich dicht vor der Bühne versammelt, von wo man sie ohne Zweifel beim Beginn der Aufführung vertreiben würde; doch noch humpelten oder krochen sie oder wälzten sich herum, um ihre Gebrechen zu zeigen. Eine Frau hatte sich das schmutzige Kleid bis fast zum Schoß hochgeschlagen und die Ärmel aufgekrempelt. Die Haut an ihren Beinen und Armen war wund, von Pusteln und Geschwüren übersät, sie heulte in einem monotonen Klagelied, und selbst die anderen Krüppel machten einen Bogen um sie. Die Bürger warfen von ferne Münzen vor die Füße der Jammergestalten und bemühten sich ansonsten, sie zu ignorieren. Auch die Gassenjungen waren allgegenwärtig; ich rückte meine Börse nach vorn, hielt die Hand darauf und bat Jana, ebenfalls Acht zu geben. Ich wusste nicht, ob der Bursche darunter war, der mich zu bestehlen versucht hatte, aber ich sah eine magere Gestalt mit einem ledernen Wams und erkannte einen der eifrigen Zeugen von gestern wieder.
    Eine Konstruktion nicht unähnlich der eines Galgens stand an einer Seite der Bühne und ragte mit dem Arm über den Wolkenhimmel hinaus. Durch zwei wuchtige Eisenringe am Ende des Arms führte je ein dick eingefettetes Seil, an dem eine Art lederner Harnisch hing. Über ein Rad am Fuß der Bühne ließen sich die Seile auf- oder abwickeln. Eine zweite Maschine mitten unter der Bühne bestand aus einer kleinen Plattform und einer komplizierten Mechanik, deren Seilzüge und Steingewichte dazu dienten, jemanden durch eine Falltür auf der Bühne so schnell wie möglich nach oben zu befördern. Die dritte Apparatur war einfach: Zwischen den Wolken hing eine Schale, die über ein Seil, das durch den Bühnenhintergrund nach unten auf den Boden führte, ausgekippt werden konnte.
    Ein halbes Dutzend junger Burschen im Alter zwischen etwa zehn und sechzehn Jahren kümmerte sich um die Belange der Schauspieler oder schleppte Kulissen heran.
    Wegen des erbaulichen Charakters des Stücks hatten einige Bürger ihre Frauen und Töchter mitgebracht, und vor allem Letztere machten den Jungen verstohlen schöne Augen. Marco Manfridus versuchte ergebnislos, die Blicke einer zarten blonden Schönheit auf sich zu
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