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Die Schule der Nackten

Die Schule der Nackten

Titel: Die Schule der Nackten
Autoren: Ernst Augustin
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wo wir alle kleine weiße Lämmerwolken im Blauen sahen, ic h schwöre.
    Inzwischen hatte er die Hand zum Sattel geformt. Die Musik ergießt sich in ein Ladidadidadidahhh…, die Düfte schwer, die Lüfte nicht zum Aushalten, ich glaube, angesichts dieser Auflösung haben wir uns alle gleich mit aufgelöst, gleich mit vergeistigt, ich jedenfalls habe es. Der Pradi streckt den Unterarm aus, zeigt uns den Sattel: Kleiner Finger abgespreizt, drei Finger gebogen in der Komm-zu-mirGebärde, Daumen voran. So zeigt er uns den Griff. Ich sehe aber statt eines Unterarms die Schlange mit zwei bösen Zähnen rechts und links, die vorzeigt.
    Es ist Kundalini.
    Die Schlangenkraft.
    Die er nun einführt, um das Entsetzliche zu vollenden, wenn er es tut. Aber das habe ich ja mein Leben lang gewußt, daß es geschieht, ich meine, mein ganzes Leben lang.
    Diesen Griff nennt man, «die Welt in der Hand halten».

    *

    Am späten Nachmittag, kurz vor dem Abendessen, hatte uns anscheinend beiden der Sinn nach einem Herbstspaziergang gestanden. Das heißt, ich war schon vorausgegangen, wartete auf ihn hinter der großen Buschgruppe, so daß er mich erst bemerkte, als er auf zehn Schritte heran war. Weglaufen konnte er nicht gut mit seinen Beinen. Schreien, rufen? Ich weiß nicht, ob es etwas genutzt hätte zwischen den Hügeln, wo der abendliche Dunst wie Watte festlag und jeden Laut erstickte. Ich hörte noch nicht einmal mein eigenes Herz schlagen, das sicherlich laut war. Wir waren auch genügend weit vom Dorf entfernt, so daß er hier im Gebüsch nicht so schnell gefunden werden würde.
    Wie macht man das? Man hält das Messer nicht wie eine Hacke oder einen Hammer, aber auch nicht wie einen Spieß, als ob man sich auf der Saujagd befände. Man hält es verkehrt herum, den Griff in der Hand verborgen, die Spitze den Unterarm hinaufzeigend, Klinge flach am Puls. Unsichtbar. Obwohl das überflüssig schien, wußte er doch ohnehin, was ich mit ihm vorhatte, als er mich hier stehen sah.
    Und was jetzt?
    Sie hätten kein Brotmesser in der Küche liegenlassen sollen, in der Küchenlade, es war sogar eines mit massivem Rücken, so daß es sich nicht verbiegen würde. Er blieb stehen, tat noch einen Schritt, blieb endgültig stehen. Panik? Er hatte kleine weiße Augen, die wie Löcher aussahen, durch die das Licht durchschien. Das mußte man ihm lassen, er zeigte keine Panik, offenbar war ihm das Ereignis nicht fremd.
    «Alex? Bist du es?»
    Es lag noch kein Laub, es gab keine Geräusche auf dem feuchten Herbstboden, als ich vortrat.
    «So darf ich dich doch nennen.»
    «Ja», sagte ich, «jetzt ist es zu spät.»
    «Willst du mich nun umbringen?»
    Ich nickte - woher wußte er, wie sie mich nannte.
    «Weißt du Alex, ich glaube nicht, daß du es tust», sagte er, «dies ist nicht die Zeit und auch nicht das Zeitalter für solche Art Bluttaten. Und ich glaube auch nicht, daß du dafür besonders geeignet bist, Alex.»
    Da hatte er recht. Womit er aber nicht rechnete, war der rote Nebel, der steigende Wahn im Kopf und die Unzurechnungsfähigkeit, in der ich mich befand.
    «Hast du keine Angst, du solltest Angst haben.»
    «Doch», sagte er, «unzurechnungsfähig, wie du bist, habe ich Angst. Aber vielleicht solltest du in deinem Blutrausch daran denken, daß es immer noch eine andere Möglichkeit gibt.»
    Damit wandte er mir den Rücken zu und hinkte davon. Ja, ich gebe zu, daß er nichts Besseres hätte tun können, als in aller Gebrechlichkeit davonzuhinken, sich davonzuschleudern (propulsio spinalis gravis). Denn das war ein wirklich armer Rücken, den er da vorzeigte, jedesmal, wenn er schleuderte, zeichnete sich das diagonal gelegene Schulterblatt wie ein Spaten ab. Sehr angestrengt und sehr arm und keinesfalls einladend, um dort ein Brotmesser hineinzustecken.
    Die andere Möglichkeit war, nach Hause zu fahren.

19

    München, Stadt der Kunst, der Wissenschaften, der umfassenden herbstlichen Kulturveranstaltungen, München, Stadt der Geistesbildung. Nirgendwo in der Welt sonst gibt es einen Ort, wo am gleichen Abend drei Mozart-Uraufführungen, ein Vortrag über Hebbels Beziehungen zu Hegel, sechs Debütantenkonzerte im Herkulessaal, zwölf Vernissagen postmoderner Malerei, zwanzig Kellerveranstaltungen mit Tee und Gebäck und einem literarischen Strip rechts der Isar stattfinden und noch ein Vortrag über Bausünden in Berlin. Jeden Abend.
    Während der letzten Wochen war ein endgültig nieseliges Wetter eingezogen. Ich genieße
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