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Die Scherenfrau

Die Scherenfrau

Titel: Die Scherenfrau
Autoren: Jorge Franco
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vor, so ‘n halbes Jahr später, als ich auf dem Weg zu Doña Rubí bin, treff ich Cachi tatsächlich auf der Straße. Ich bin fast gestorben vor Schreck, aber anscheinend hat er mich nicht erkannt. Ich glaube, er hat in der Nacht mein Gesicht gar nicht richtig gesehen, denn ich weiß, dass diese Leute auf der Hut sind, wenn sie einem auf die Pelle rücken. Sie glauben, dass man sie verpfeifen oder es ihnen heimzahlen wird, aber der, weißt du, was er tat? Er fing an, mit mir zu flirten und mir irgendwelchen Schwachsinn zu erzählen. Wie findest du das, hä?«
    »Und dann?«
    »Dann? Na, jedes Mal, wenn ich zu Doña Rubí ging, traf ich ihn. So lange, bis ich die Angst vor ihm verlor und beschloss, dass dieser Typ dafür bezahlen sollte. Also ging ich auf seine Anmache und seine Sprüche ein, bis er ganz happy war. Einige Zeit später, so nach einem Monat, als Doña Rubí einmal nicht zu Hause war, sagte ich zu ihm, er solle reinkommen und dass meine Mama nicht da sei. Du kannst dir nicht vorstellen, was der für Augen machte. Klar wusste ich schon, was ich tun würde. Ich brachte ihn also in mein Zimmer, legte ein bisschen Musik auf, ließ mir Küsschen geben und mich da anfassen, wo er mir vorher wehgetan hatte. Dann sagte ich ihm, er solle sich ausziehen und sich brav neben mich legen, und dann blies ich ihm einen, und er machte die Augen zu und sagte, er könne es gar nicht fassen, was für ein Genuss, und mit einem Mal holte ich die Schere von Doña Rubí heraus, die ich unter dem Kopfkissen versteckt hatte, und zack!, schnitt ich ihm die Eier ab.«
    »Nein!«, entfuhr es mir.
    »Doch, stell dir vor. Der Typ fing wie ein Irrer an zu schreien, und ich schrie noch lauter zurück: Ob er sich an die Nacht in dem Graben erinnert und dass er mich genau anschauen soll, damit er mein Gesicht nicht mehr vergisst. Dann fing ich an, auf ihn einzuhacken, und der Typ rannte blutüberströmt hinaus, ohne Eier und ohne Klamotten, und die Leute auf der Straße schauten kaum hin.«
    »Und dann?«
    »Dann? Ich hab ihn nie mehr wieder gesehen, hab auch nichts mehr gehört. Außerdem rastete Doña Rubí aus wegen dem Blutbad, das ich in ihrem Haus angerichtet hatte, und sagte, dass ich mich nicht mehr blicken lassen soll.«
    »Und wie alt warst du, Rosario, als das alles passiert ist?«, fragte ich.
    »Ich war gerade dreizehn geworden. Das werde ich nie vergessen.«
    Jedes Mal, wenn Rosario erzählte, war es, als erlebte sie die Geschichte noch einmal. Mit der gleichen Heftigkeit riss sie die riesigen Augen auf, zeigte dieselbe Überraschung oder gestikulierte mit derselben Furcht, die ein gerade überstandenes Ereignis ausgelöst hatte, und brachte den Hass, die Liebe oder das jeweils vorherrschende Gefühl zum Ausdruck, begleitet von einem Lächeln oder, meistens, von einer Träne. Rosario konnte tausend Geschichten erzählen, die alle ganz verschieden waren. Doch wenn man irgendwann Bilanz zog, handelte es sich nur um eine einzige Geschichte. Die von Rosario, die vergeblich versuchte, das Leben zu besiegen.
    »Wie besiegen?«, wollte Emilio wissen, der von solchen Sachen nicht viel verstand.
    Es besiegen, ganz einfach, es aufs Kreuz legen, es wie einen gedemütigten Gegner in den Staub zwingen, oder sich wenigstens selbst betrügen, wie wir alle, die wir glauben, dass sich die Frage von selbst erledigt, wenn man einen Beruf, eine Frau, ein trautes Heim und ein paar Kinder hat. Rosarios Kampf ist nicht so simpel. Seine Wurzeln reichen weit zurück in die Vergangenheit, bis zu früheren Generationen. Das Gewicht des Lebens, das auf ihr lastet, ist beschwert vom Gewicht dieses Landes. In ihren Genen schleppt sie ein Geschlecht von Hidalgos und Schweinehunden mit sich, die sich mit gezückter Machete den Weg durch das Leben bahnten. Mit der Machete aßen und arbeiteten sie, rasierten sich, begingen Morde und schafften Probleme mit ihren Frauen aus der Welt. Heute ist die Machete eine Räuberpistole, eine Neun-Millimeter, eine Schrotflinte. Die Waffe ist eine andere. Aber nicht das, wofür man sie einsetzt. Die Geschichte hat sich auch geändert, sie ist entsetzlich geworden, und vom Stolz sind wir zur Scham übergegangen, ohne zu verstehen, was, wie und wann all das geschehen ist. Wir wissen nicht, wie alt unsere Geschichte ist, aber wir spüren ihre Last. Und Rosario hat sie von jeher getragen, deshalb hielt sie am Tag ihrer Geburt nicht Brot unter dem Arm, sondern das Unglück.
    »Hallo, was gibts Neues?«, fragte mich Emilio,
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