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Die Schatten eines Sommers

Die Schatten eines Sommers

Titel: Die Schatten eines Sommers
Autoren: Lia Norden
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Wollte.
    Als im Haus vor uns die Tür aufging, packte ich Maries Arm und zog sie in die nächste Einfahrt, in der zwei große Kombis parkten. Wir schlüpften in die Lücke zwischen den beiden Wagen, kauerten uns zusammen und lauschten. Nebenan lief jemand auf die Straße, an unserem Versteck vorbei.
    «Und wenn …», flüsterte Marie ängstlich.
    Ich legte den Finger auf die Lippen, aber das hielt sie nicht davon ab, weiterzusprechen: «Und wenn das gar nicht ihre Kette ist?», wisperte sie. «Wir können doch nicht einfach zu ihr gehen und sie beschuldigen … Das ist doch verrückt!»
    Wie gerne hätte ich genickt, einfach genickt und die Gedanken, die in meinem Kopf rasten, ausgeschaltet. Die Schlachtplatte auf dem Perserteppich, Fabiennes Kühle, ihre Distanziertheit und Verschlossenheit uns gegenüber, dieser Wechsel zwischen Aggressivität und pastoralem Gehabe … Ich konnte nicht mehr zurück. Ich wusste nur eines, während wir zwischen den Stoßstangen der Autos hockten: Es gab nur noch diese eine Nacht für uns drei. Wir mussten mit Fabienne sprechen, sie zum Reden bringen, sie zwingen, aufrichtig zu sein.
    «Los!», raunte ich Marie zu. «Weiter!»
    Sie zögerte.
    «Komm jetzt! Oder gib mir die Kette und bleib hier!», drängte ich.
    Marie öffnete ihre Faust und blickte auf den silbernen Fisch in ihrer Hand. Ich war unglaublich erleichtert, als sie die Finger wieder schloss, sich erhob und neben mir aus der Einfahrt huschte – zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich Angst verspürt, Fabienne alleine zu begegnen.
    Den Rest des Weges eilten wir im Schatten der Gartenhecken entlang. Wir erreichten Tante Hiltruds Haus gerade noch rechtzeitig. Unmittelbar nachdem wir in die breite Einfahrt gehetzt waren, lief der Nachbar auf die Straße.
    Das Haus der Tante war ein kleiner Resthof und lag etwas zurückgesetzt. Marie zog mich hinter einen der alten Bäume, die die Einfahrt flankierten.
    «Und was sagen wir?», flüsterte sie außer Atem. «Wir können ja erst mal ganz freundlich anfangen …»
    Es war absurd, aber ich musste lachen. Marie würde auch noch vor einem Erschießungskommando versuchen, die Situation mit ein paar netten Worten zu entspannen. Ich presste mir die Hand auf den Mund, um den bellenden Husten zu unterdrücken, der mich überfiel. Der schnelle Lauf durchs ganze Dorf war zu viel für meine Raucherlunge gewesen.
    «Egal», keuchte ich und zerrte Marie im Schatten der Bäume weiter. «Alles egal.»
    Fabienne saß auf einer Holzbank neben der Haustür, die Hände im Schoß gefaltet.
    «So spät noch?», fragte sie liebenswürdig, als wir vor ihr standen.
    Ich hustete verzweifelt.
    «Ja … Tut uns leid …», begann Marie.
    Fabienne beugte sich erwartungsvoll vor.
    «Also, das Boot …», versuchte Marie es erneut.
    Fabienne hob fragend die Augenbrauen.
    «Sag was!», stieß ich mühsam hervor, bevor mich der nächste Hustenanfall stoppte.
    Fabienne schüttelte tadelnd den Kopf. «Du solltest wirklich weniger rauchen.»
    Ich beugte mich vor, stützte mich mit den Händen auf den Knien ab und versuchte durchzuatmen.
    «Wir haben …», sagte Marie vorsichtig.
    «Wir hatten einen langen Tag, wir alle», unterbrach Fabienne sie milde. «Wir sollten schlafen gehen.»
    «Was ist los?», fuhr ich sie an. «Was ist los mit dir? Warum brennt dieses verdammte Boot?!»
    Fabienne lächelte mich an. «Nichts geschieht ohne Grund.»
    «O ja! Das glaube ich auch. Weißt du, was wir gefunden haben?»
    Fabienne schloss die Augen.

[zur Inhaltsübersicht]
    MARIE
    Am liebsten hätte ich genau das Gleiche getan wie Fabienne: die Augen zugemacht. Ich wollte mich umdrehen und gehen, so als wäre nichts geschehen, gar nichts. Verdammt, warum hatte ich den blöden Fisch aufgehoben? Und warum hatte ich ihn dann nicht wenigstens vor Hannas Blicken versteckt. Ich hätte den Anhänger ohne Probleme in meiner Faust verbergen können, um ihn irgendwann zu vergraben oder im See zu versenken. Nein, nicht im See …
    Stattdessen war ich Hanna hierher gefolgt, wie ein Lamm, genau wie früher. Was wollten wir eigentlich? Die Wahrheit finden? Warum? Ich war sicher, dass sie mir nicht gefallen würde, diese Wahrheit. Außerdem hatten die letzten fünfundzwanzig Jahre gezeigt, dass ich auch recht gut ohne sie leben konnte, oder nicht? Aber jetzt war es zu spät, jetzt standen wir hier vor Fabienne und konnten nicht mehr einfach die Stopptaste drücken und die Löschtaste schon gar nicht. Ich biss mir auf die Lippen. Vielleicht,
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