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Die Rose von Darjeeling - Roman

Die Rose von Darjeeling - Roman

Titel: Die Rose von Darjeeling - Roman
Autoren: Sylvia Lott
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mir kann niemand die Erinnerungen an dich nehmen …«
    Sie spürte, wie er ihre Hand drückte.
    »Wir haben vier wunderbare Kinder. Wir hatten ein gutes Leben zusammen … Ich danke dir für alles.«
    Noch einmal drückte er ihre Hand. Er schnaufte schwer, ein letzter Seufzer durchlief zitternd seinen Körper. Die Hand erschlaffte. Er atmete nicht mehr.
    »Carl …«, flüsterte Gesine mit erstickter Stimme. »Ik hev di leef …«
    Sie legte die Rhododendronblüte auf die Bettdecke über sein Herz und küsste ihn.
    Schon seit zwei Tagen lief Kathryn unruhig im Herrenhaus und im Park umher. Statt wie sonst zur Blütezeit ihrer Rose von Darjeeling in deren Nähe zu werkeln und sich zu freuen, war sie aufgewühlt, nervös, spürte einen Druck, der ihr Bauchschmerzen und Herzrasen verursachte. Sie zwang sich, den Nachmittagstee an ihrem Lieblingsplatz neben dem Rhodo einzunehmen. Sie versuchte, sich abzulenken und las den Rundbrief des Komitees, das die Umzugswagen ihrer Gemeinde zur großen Blumenparade im August vorbereitete. Doch sie konnte sich nicht konzentrieren.
    Sie schloss die Augen. Ganz deutlich spürte sie, dass Carl in Bedrängnis war. Sie konnte kaum atmen, es fröstelte sie. Und dann, auf einmal, löste sich die Anspannung. Wärme flutete ihren Körper, Erleichterung machte sich breit. Kathryn nahm Carls Anwesenheit wahr, als stünde er direkt hinter ihr.
    Jetzt bist du gestorben, dachte sie. Jetzt lebst du ewig.
    Eine Woche darauf erhielt sie die Todesanzeige. Ohne Absender. Auf dem schwarz umrahmten Papier stand lediglich in steiler Männerhandschrift: Love, G.
    Wie erschlagen saß Kathryn stundenlang neben ihrem Rhododendron. Charles kam und wunderte sich. »Was ist los, Mama?«
    Statt zu antworten, sah sie ihn aus ihren hellen Augen an. »Versprich mir, mein Sohn, dass du dich später, wenn ich einmal nicht mehr bin, gut um diesen Rhododendron kümmerst.«
    Gustav hatte lange überlegt, was er Carls Todesanzeige hinzufügen sollte. Er fand, dass Kathryn es erfahren müsste. Sollte er schreiben: Du warst die Liebe meines Lebens? Oder etwa: Du warst die Liebe seines Lebens? Nein. Deshalb also nur Love, G. Sie würde schon wissen.
    Gustav war ein enttäuschter und wütender alter Mann geworden. Immer hatte er das Gute gewollt, doch es war ihm schlecht gelohnt worden. So sah er es. Kleine Altersbosheiten hielten ihn in seinen letzten Jahren am Zwischenahner Meer bei Laune. Er zwickte seine Haushälterin gern mal in den Hintern. Oder erschreckte Kinder, die am See vor seinem Grundstück spielten. Manchmal ging er mit Hendrike, die inzwischen verwitwet war, in die Spielbank und verzockte ein paar Hunderter. Immer noch interessierte er sich sehr für die Himalayaregion. Er las alles, was er dazu finden konnte. Gartenpflege gehörte nicht zu seinen Vorlieben, das Grundstück ließ er verwildern.
    Ab und zu fuhr er nach Leer, weil er Bekannte treffen, mal wieder am alten Hafen sitzen und in der Waage speisen oder im Café gegenüber frischen, mit Butter bestrichenen Rosinenstuten zum Tee bestellen wollte. Im Sommer 1980 lud ihn das Unternehmen, das ter-Fehn-Tee geschluckt hatte, zu einer Jubiläumsfeier ein und präsentierte bereits den zweiten neuen Geschäftsführer. Es schmerzte Gustav sehr, die Veränderungen im Hause seines Großvaters zu sehen. Am liebsten wäre er sofort umgekehrt. Auch der Garten präsentierte sich zum Jubiläum verändert, umgestaltet zu einem großen Firmenparkplatz, umrahmt von pflegeleichten Bodendeckern.
    »Der Rhododendron«, fragte Gustav heiser, »der so leuchtend rot blühte und sogar duftete – wo ist der denn geblieben?«
    »Oh, ich weiß auch nicht«, antwortete der neue Geschäftsführer ebenso ahnungslos wie dümmlich, »der ist wohl mit weggekommen. Ich erinnere mich gar nicht daran.«
    Eine Mitarbeiterin, die das Gespräch gehört hatte, kam näher. »Der Winter vor anderthalb Jahren, 1978 auf 1979, der war doch so streng. Da ist der Rhodo erfroren. Wirklich schade, der war besonders schön …«
    Gustav ließ sein Reetdach erneuern. Die Reetbündel, die übrig blieben, schleppte er in das Dickicht seines Seegrundstücks. Wenn er auf einer Bank in seiner Wildnis saß, durch die er auf das Zwischenahner Meer blicken konnte, fühlte er sich manchmal ein bisschen wie auf einer Expedition. Wie damals in Sikkim.
    Er ließ sich an seinem Lieblingsplatz einen kleinen Unterstand bauen und hängte Verbotsschilder auf, damit niemand sein Grundstück betrat. Er wünschte dort
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