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Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)

Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)

Titel: Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)
Autoren: Ugo Riccarelli
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doch schon erwachte in ihm auch eine alte Wut, der Wunsch nach Rache, den er allzu lange unterdrückt, irgendwo versteckt hatte, etwas, was aus den Worten bestand, die er seinem Vater niemals gesagt hatte, aus der Zeit, die er, ohne sie aufhalten zu können, hatte verstreichen lassen, aus jedem hinkenden Schritt, zu den der Castellucci ihn gezwungen hatte, aus nichtgehaltenen Versprechen, aus Aidas rissigen Händen und Elemiras Tränen.
    Es war ein Klumpen, der ihm auf die Brust drückte und ihm den Atem nahm, der in seine Kehle aufstieg und wie ein schlecht verdautes Essen aus ihm herauszubrechen drohte, was eine Befreiung gewesen wäre, aber für alle der Anfang vom Ende hätte werden können.
    Also drehte er sich zu Mara um und bat sie, Wein zu servieren. Dann ging er langsam, als näherte er sich einem wilden Tier, zum Tisch und setzte sich dem Offizier gegenüber.
    »Sie sind sehr jung, Herr Doktor, und bekleiden schon einen sehr verantwortungsvollen Posten«, sagte der Deutsche.
    »Das liegt am Krieg, Herr Hauptmann«, erwiderte Beniamino, »diese Notsituation hat dazu geführt, dass Leuten wie mir, die in normalen Zeiten noch Erfahrungen hätten sammeln müssen, bereits außergewöhnliche Aufgaben übertragen werden.«
    »Richtig, und Erfahrungen im Kampf hätten Sie ohnehin nicht machen können. Ihre Invalidität hätte Ihnen das verwehrt«, sagte der andere und zielte mit der Peitsche auf Beniaminos Bein, das dieser neben dem Tisch ausgestreckt hatte.
    »Ein dummer Unfall beim Fußballspiel: das Ungestüm eines Gegners, der einem den Ball abnehmen will und das Bein gleich mitnimmt, einem dafür aber ein wenig Ruhe schenkt.«
    »Ich verstehe. Wie sagt man hierzulande: Nicht jedes Unglück richtet Schaden an.«
    »Genau. Manchmal entpuppt sich das, was wie ein Unglück aussieht, im Lauf der Zeit als etwas Gutes, und wer ein Feind zu sein schien, offenbart sich als Freund«, erklärte Beniamino und hob das Glas in Richtung Castellucci, der hinter dem Offizier stehengeblieben war.
    »Ein vernünftiger Gedanke, Herr Doktor, sehr vernünftig«, antwortete dieser und hob ebenfalls das Glas. Er nahm einen Schluck, und seine Miene wurde ernst, als dächte er nach.
    »Allerdings dürfen wir diese Überlegung nicht zu leichtfertig anwenden«, sagte er und ließ den Satz eine gute Weile im Raum schweben.
    Darauf musterte er das Glas, als läse er darin, und fuhr fort: »Wir müssen Gewissheit darüber haben, was das Böse und was das Gute ist, von welcher Art es jeweils ist und wie man es genau erkennt, sonst meinen wir am Ende noch, eines sei so gut wie das andere, eine Idee sei so gut wie die andere, ein Mensch sei so gut wie der andere. Glauben Sie nicht auch, Herr Doktor?«
    Beniamino antwortete nicht.
    »Als Arzt müssten Sie bestimmte Dinge wissen …«
    Diese Stimme des Deutschen war mit Ironie getränkt, eine schneidende Klinge, die Beniamino verletzte. Einen Augenblick lang sah er Doktor Rattazzis Gesicht vor sich, blutüberströmt, von diesen Worten zerschnitten.
    »Als Arzt weiß ich nur, dass ich dank meiner Fehler lernen kann, Schritt für Schritt, indem ich von Mal zu Mal bestimme, was gut und was schlecht ist. Indem ich auf der Suche bin, werter Herr Hauptmann«, antwortete er.
    Der Ton des Offiziers wurde schärfer.
    »Worte, nutzlose Worte. Es gibt nichts zu suchen und zu finden außer dem, was die Natur uns schon in aller Deutlichkeit zeigt«, sagte er, wobei er die letzten Worte stark betonte. »Die Medizin hat die Aufgabe, der Natur zu helfen und ihren Hinweisen zu folgen, das Gute auszulesen und zu fördern und die Wurzel des Bösen auszureißen, den faulen Ast abzuschneiden, um dem Stamm zu neuer Blüte zu verhelfen«, erklärte der Deutsche mit fester Stimme.
    »Einen faulen Ast muss man nicht immer abschneiden, Herr Hauptmann. Krankheiten lassen sich heilen.«
    »Heilen …« äffte der Deutsche ihn abschätzig nach. »Wir dürfen keine Zeit und keine Kräfte verlieren. Sinnlose Umwege müssen vermieden werden, mein lieber Doktor. Wir müssen handeln, bevor wir heilen, und wir müssen alles tun, um Irrtümer auszumerzen. Irrtümer ausmerzen«, wiederholte er barsch, »und dank der Wissenschaft sind wir fähig, das Beste auszuwählen.«
    »Es gibt aber Krankheiten, und es gibt kranke Menschen«, entgegnete Beniamino heftig.
    »Krankheiten sind lediglich Irrtümer, die ausgemerzt werden müssen.«
    Beniamino spürte, dass er vor Zorn glühte. Er hätte schreien, aufstehen und fortgehen wollen, doch
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