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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut
Autoren: Margaret Atwood
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beide gedacht, daß sie tot ist. Und wahrscheinlich wollte ich einfach, daß sie das auch bleibt.«
    »Wirklich?« sagt Tony.
    »Übrigens wollte sie nicht mit mir sprechen«, sagt West, als wisse er, was Tony gedacht hat. »Sie wollte dich. Wenn ich sie selbst am Apparat gehabt hätte, hätte ich ihr gesagt, sie soll es vergessen; ich wußte, daß du keine Lust haben würdest, sie zu sehen. Ich hab es mir sogar aufgeschrieben – wo sie abgestiegen ist –, aber als ich noch einmal darüber nachgedacht hatte, hab ich den Zettel weggeworfen. Sie hat immer nur Ärger bedeutet.«
    Tony spürt, wie sie weich wird. »Ich hab sie gesehen«, sagt sie. »Ich hab sie heute nachmittag getroffen. Sie schien zu wissen, daß dein Arbeitszimmer im zweiten Stock liegt. Woher konnte sie das wissen, wenn sie nie hier gewesen ist?«
    West lächelt. »Von meinem Anrufbeantworter. Zweiter Stock, Gegenwind. Weißt du nicht mehr?«
    Inzwischen hat er sich völlig ausgekoppelt und ist aufgestanden. Tony geht zu ihm, und er faltet sich zusammen wie ein Klappstuhl und wickelt seine knotigen Arme um sie und küßt sie auf die Stirn. »Es gefällt mir, daß du eifersüchtig bist«, sagt er. »Aber du hast keinen Grund dazu. Sie ist nichts, nicht mehr.«
    Wenn er wüßte, denkt Tony. Oder vielleicht weiß er und tut nur so, als wisse er nicht. An seinen Körper gequetscht, schnüffelt Tony an ihm herum, um herauszufinden, ob er viel getrunken hat. Falls ja, wäre das ein todsicherer Hinweis. Aber sie riecht nichts, nur den üblichen, milden Biergeruch.
    »Zenia ist tot«, sagt sie feierlich zu West.
    »O Tony«, sagt West. »Schon wieder? Es tut mir wirklich leid.« Er wiegt sie vor und zurück, als wäre sie diejenige, die getröstet werden muß, nicht er.
     
    Als Charis nach Hause kommt, immer noch ein wenig wacklig, aber einigermaßen gefaßt, brennt Licht in der Küche. Es ist Augusta, die ein langes Wochenende frei hat und zu Besuch gekommen ist. Charis freut sich, sie zu sehen, obwohl sie wünschte, sie hätte Zeit gehabt, vorher aufzuräumen. Sie sieht, daß Augusta das Geschirr der letzten Tage abgewaschen und ein paar der größeren Spinnweben entfernt, Charis’ meditativen Altar jedoch in Ruhe gelassen hat. Aber er ist ihr aufgefallen.
    »Mom«, sagt sie, als Charis sie begrüßt und den Kessel für einen Tee vor dem Schlafengehen aufgestellt hat. »Was machen dieser Felsbrocken und dieser Klumpen Dreck und die Blätter auf dem Wohnzimmertisch?«
    »Es ist eine Meditation«, sagt Charis.
    »O Gott«, murmelt Augusta. »Kannst du das Zeug nicht woanders hintun?«
    »August«, sagt Charis, ein wenig gepreßt. »Es ist meine Meditation und es ist mein Haus.«
    »Du brauchst mir nicht gleich den Kopf abzureißen«, sagt August. »Und außerdem, Mom, heiß ich Augusta. Das ist jetzt mein Name.«
    Charis weiß das. Sie weiß, daß sie Augusts neuen Namen respektieren sollte, weil jeder das Recht hat, sich entsprechend seiner oder ihrer inneren Stimme umzubenennen. Aber sie hat Augusts ursprünglichen Namen mit solcher Liebe und Sorgfalt ausgesucht. Sie hat ihn ihr gegeben, er war ein Geschenk. Es fällt ihr schwer, sich davon zu lösen.
    »Ich mach dir ein paar Muffins«, sagt sie versöhnlich. »Morgen. Mit Sonnenblumenkernen. Die ißt du doch immer so gern.«
    »Du mußt mir nicht immer Sachen machen, Mom«, sagt Augusta mit einer seltsam erwachsenen Stimme. »Ich liebe dich auch so.«
    Charis spürt, wie ihre Augen feucht werden. Augusta hat schon lange nichts derart Liebevolles mehr gesagt. Und es fällt Charis schwer, es zu glauben – daß jemand sie lieben kann, auch wenn sie sich keine Mühe gibt. Sich keine Mühe gibt herauszufinden, was andere Leute brauchen, sich keine Mühe gibt, würdig zu sein. »Es ist nur, weil ich mir Sorgen um dich mache«, sagt sie. »Um deine Gesundheit.« Das ist nicht wirklich der Teil von Augusta, der ihr Sorgen macht, aber er steht stellvertretend für andere, spirituellere Dinge. Obwohl auch Gesundheit etwas Spirituelles ist.
    »Im Ernst, Mom«, sagt Augusta. »Jedesmal, wenn ich nach Hause komme, versuchst du, mich mit Gemüseklopsen vollzustopfen. Ich bin neunzehn, Mom, ich kann auf mich selbst aufpassen, ich esse ausgewogene Mahlzeiten! Warum können wir nicht einfach ein bißchen Spaß haben? Spazierengehen oder so?«
    Es ist ungewöhnlich, daß Augusta Zeit mit Charis verbringen will. Vielleicht ist Augusta doch nicht völlig hart, nicht durch und durch lackiert und glänzend. Vielleicht hat
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