Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Opfer des Inzests

Die Opfer des Inzests

Titel: Die Opfer des Inzests
Autoren: Nathalie Schweighoffer
Vom Netzwerk:
mache ich mir Vorwürfe. Heute weiß ich, daß das
das einzig Richtige gewesen wäre. Annie muß gerächt und dieser Mistkerl
bestraft werden. Aber für einen Vater ist es so schwer, sich vorzustellen, was
passiert ist. Ich hätte das Problem am liebsten heruntergespielt. Heute kann
ich die Augen nicht mehr vor der Wahrheit verschließen. Ich hätte meiner
Tochter eine größere Stütze sein müssen. Ich hätte sie aus diesem Umfeld herausholen,
sie zu mir holen müssen.«
    Annie wirft sich ihrem Vater in die
Arme. Das Sprechen fällt ihr schwer.
    »Du gibst mir Kraft für das, was gleich
noch kommt, Papa«, sagt sie nur.
    Es ist Zeit, in den Gerichtssaal
zurückzukehren. Diesmal muß Annie vor das Gericht treten. Mit den Blicken
versuche ich, ihr möglichst viel Mut zu machen. Und dabei ist mir selbst bang
ums Herz.
    »Als meine Mutter Alain heiratete, sah
ich in diesem Mann einen Vater«, beginnt Annie mit klarer Stimme. »Mit 15
begriff ich, daß er sich für meine Rundungen interessierte. Er sagte, ich würde
mich noch besser entwickeln, wenn ich Sex hätte. Er sagte, um die körperliche
Liebe zu lernen, müßte ich mich an reifere Männer halten und nicht an
unerfahrene Jungen meines Alters. Dann fing er an, sich an mir zu reiben und
mich zu streicheln, beispielsweise wenn ich bügelte. Ich ging ihm aus dem Weg,
so gut ich konnte, aber er schaffte es trotzdem, vor mir bis zum Samenerguß zu
masturbieren.«
    Annie bricht in Tränen aus. Alain Mozère
senkt den Blick.
    Das junge Mädchen fährt fort.
    »Meine Mutter hatte mir verboten,
tanzen zu gehen. Da sie nachts nicht da war, erlaubte Alain mir eines Abends
auszugehen. Unter einer Bedingung: daß ich, wenn ich nach Hause kam, mit ihm
schlief. Ich hielt das für einen Scherz und ging. Als ich zurückkam und die Tür
öffnete, fielen Schaufeln und Besen mit lautem Getöse um. Mir war sofort klar,
daß Alain sie dorthin gestellt hatte, um zu hören, wann ich heimkam, aber das
beunruhigte mich nicht. Ich ging schlafen. Alain kam in mein Zimmer. Mein
kleiner Bruder schlief auch dort: Wir hatten Etagenbetten. Mein Stiefvater
faßte mich an, drang in mich ein. Es tat sehr weh. Aber ich konnte nichts tun,
nichts sagen, weil ich sonst Loïc geweckt hätte. Hinterher ging er zurück in
sein Bett. Das ging über zweieinhalb Jahre so.«
    Mit Tränen in den Augen richtet Annie
das Wort an ihren Stiefvater:
    »Du hast mich beschmutzt. Seitdem kann
ich kein normales Leben mehr führen. Ich bin nicht ganz richtig im Kopf. Ich
fühle mich besudelt. Ich habe Probleme. Ich habe eine Therapie gemacht, die
aber nichts gebracht hat. Ich vermisse meinen kleinen Bruder sehr. Ich kenne
die Adresse meiner Mutter nicht. Wenn sie mich hätte sehen wollen, wäre sie zu
mir gekommen. Ich verstehe einfach nicht, daß sie nicht gekommen ist, um mich
aufzubauen.«
    Alain Mozère mustert Annie
eindringlich. Die Stille ist drückend. Annie zittert. Sie wirkt winzig, wie sie
sich ans Geländer klammert. Sie spricht weiter:
    »Mein Stiefvater zwang mich, ihn zu
küssen. Er hielt mein Gesicht mit beiden Händen fest. Und er zwang mich auch,
ihn oral zu befriedigen.«
    »Nein, ich habe nie Gewalt angewendet«,
verteidigt sich Alain Mozère. »Und ich habe Annie auch nie aufgefordert, mich
oral zu befriedigen.«
    Annie ist zu aufgewühlt, um
fortzufahren. Schwankend kehrt sie an ihren Platz zurück. Ich drücke ihre Hand,
um ihr damit zu bedeuten: Bravo! Danke! Nur Mut! Sie weint, aber ich weiß, daß
sie erleichtert ist.
    Ich bin stolz auf sie. Sie hat Stärke
gezeigt. Soviel mehr als ich. Sie hat geredet, und welche Überwindung es sie
gekostet haben muß!
    Die Psychologin, bei der Annie in
Behandlung war, tritt in den Zeugenstand:
    »Ich habe Annie im Juni 1992
untersucht; damals war sie 21 Jahre alt. Ich habe zwei Brüche in ihrem Leben
festgestellt. Die Scheidung ihrer Eltern und später ihren Umzug zu ihrem Vater.
Annie erinnert sich nicht an ihre frühe Kindheit, an den Streit zwischen ihren
Eltern, aber sie hat einen Mangel an Zuwendung und Einsamkeit erfahren. In
ihrer Familie gab es keinen oder einen nur sehr begrenzten Dialog. Ihre Mutter
schien mir ungeduldig und nur bedingt zu Zärtlichkeit fähig. Sie leistete in
ihrer Rolle ein absolutes Minimum. Bei der Trennung der Eltern kümmerte sich
niemand wirklich um das kleine Mädchen. Die Person, mit der sie den meisten
Kontakt hatte, war ihr Stiefvater. Ihr Vater hatte ebenfalls wieder geheiratet,
und seine neue Frau hatte nicht viel für
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher