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Die Nacht Von Lissabon

Die Nacht Von Lissabon

Titel: Die Nacht Von Lissabon
Autoren: Erich Maria Remarque
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unten war der Fluß, und der Fluß war die Freiheit, er war das Leben, er mündete in das Meer, und das Meer war Amerika.
      Ich blieb stehen. »Ich hoffe, Sie machen keine Scherze mit mir«, sagte ich.
    »Nein«, erwiderte der Mann.
    »Keine Scherze mit den Schiffskarten, meine ich.«
      Er hatte sie auf dem Quai wieder in seine Tasche gesteckt.
      »Nein«, sagte er, »ich mache keine Scherze.« Er zeigte auf einen kleinen Platz, der von Bäumen eingefaßt war. »Da drüben ist das Lokal, das ich meine. Es ist noch offen. Wir fallen nicht auf. Es kommen fast nur Ausländer dahin. Man wird uns für Leute halten, die morgen reisen werden. So wie die andern, die dort ihre letzte Nacht in Portugal feiern und morgen aufs Schiff gehen.«

    Das Lokal war eine Art von Bar mit einem kleinen
    Viereck zum Tanzen und einer Terrasse, ein Platz, zurechtgemacht für den Touristenverkehr. Man hörte eine Gitarre und sah im Hintergrund eine Fadosängerin. Auf der Terrasse waren einige Tische mit Fremden besetzt. Eine Frau in einem Abendkleid und ein Mann in einem weißen Smoking waren dabei. Wir fanden einen Platz am Ende der Terrasse. Man konnte auf Lissabon hinabsehen, auf die Kirchen im blassen Licht, die erleuchteten Straßen, den Hafen, die Docks und auf das Schiff, das eine Arche war.
      »Glauben Sie an ein Weiterleben nach dem Tode?« fragte der Mann mit den Billetts.
      Ich blickte auf. Ich hätte alles andere erwartet. Es war eine zu unvermutete Frage. »Ich weiß es nicht«, erwiderte ich schließlich. »Ich war in den letzten Jahren zu sehr mit dem Weiterleben vor dem Tode beschäftigt. Wenn ich in Amerika bin, werde ich gern darüber nachdenken«, fügte ich hinzu, um ihn daran zu erinnern, daß er mir die Billetts versprochen hatte.
    »Ich glaube nicht daran«, sagte er.
      Ich atmete auf. Ich war bereit, einem Unglücklichen zuzuhören, aber ich hätte nicht gern diskutiert. Ich hatte keine Ruhe dazu. Unten lag das Schiff.
      Der Mann saß eine Zeitlang da, als schliefe er mit offenen Augen. Dann, als der Gitarrespieler auf die Terrasse kam, wachte er auf. »Ich heiße Schwarz«, sagte er. »Es ist nicht mein richtiger Name; er ist der, der auf meinem Paß steht. Aber ich habe mich an ihn gewöhnt, und er wird für heute nacht genügen. Waren Sie lange in Frankreich?«
    »So lange es ging.«
    »Interniert?«
    »Als der Krieg ausbrach. Wie alle andern.«
      Der Mann nickte. »Wir auch. Ich war glücklich«, sagte er dann plötzlich leise und rasch, den Kopf gesenkt, die Augen abgewandt. »Ich war sehr glücklich. Glücklicher als ich je geglaubt hätte, sein zu können.«
      Ich drehte mich überrascht um. Er sah wahrhaftig nicht so aus. Er wirkte eher wie ein mittelmäßiger, etwas schüchterner Mann.
    »Wann?« fragte ich. »Etwa im Lager?«
    »Im letzten Sommer.«
    »1939? In Frankreich?«
      »Ja. Im Sommer vor dem Kriege. Ich begreife jetzt noch nicht, wie alles kam. Deshalb muß ich mit jemand darüber reden. Ich kenne niemand hier. Wenn ich mit jemand darüber rede, wird es noch einmal da sein. Es wird mir dann ganz klarwerden. Und es wird bleiben. Ich muß es nur noch einmal -« Er brach ab.
    »Verstehen Sie?« fragte er nach einer Weile.
      »Ja«, erwiderte ich und fügte behutsam hinzu: »Es ist nicht schwer zu verstehen, Herr Schwarz.«
      »Es ist überhaupt nicht zu verstehen!« erwiderte er, plötzlich heftig und leidenschaftlich. »Sie liegt da unten in einem Zimmer, in dem die Fenster geschlossen sind, in einem scheußlichen Holzsarg, tot, und sie ist es nicht mehr! Wer kann das verstehen? Niemand! Sie nicht und ich nicht, und niemand, und wer sagt, er verstehe es, der lügt!«
    Ich schwieg und wartete. Ich hatte schon öfter so mit jemand gesessen. Verluste waren schwerer durchzustehen, wenn man ohne eigenes Land war. Nichts stützte einen dann, und die Fremde wurde schrecklich fremd. Ich hatte es in der Schweiz erlebt, als ich die Nachricht erhielt, daß man meine Eltern in Deutschland im Konzentrationslager umgebracht und verbrannt hatte. Ich hatte immerfort an die Augen meiner Mutter im Feuer des Ofens denken müssen. Es verfolgte mich jetzt noch.
      »Ich nehme an, Sie wissen, was der Emigrantenkoller ist«, sagte Schwarz ruhiger.
      Ich nickte. Ein Kellner brachte eine Schüssel Garnelen. Ich fühlte plötzlich, daß ich sehr hungrig war, und erinnerte mich daran, daß ich seit mittags nichts gegessen hatte. Unschlüssig sah ich zu Schwarz hinüber. »Essen Sie nur«,
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