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Die Nacht in mir: Roman (German Edition)

Die Nacht in mir: Roman (German Edition)

Titel: Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
Autoren: Nancy Baker
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verborgen zu halten. Er weiß es, dachte sie plötzlich. Was auch immer hier vor sich geht, er weiß es. Sie sah zu, wie er an den Rand der Matte trat und sich mit erstaunlicher Grazie niederkniete. »Ich wäre geehrt, wenn Sie mein Tagebuch behalten würden.« Fujiwara hielt ihm ein dünnes Buch hin, und Rossokow nahm es langsam entgegen, drehte es herum, ehe er es in seinem Mantel verwahrte. Dann erhob er sich und schickte sich an, wegzugehen, aber Fujiwara hielt ihn auf. »Nein. Bitte. Warten Sie hier. Ich muss Sie noch um einen weiteren Gefallen bitten.«
    Rossokow erstarrte mit gebeugtem Haupt, dann nickte er und trat zur Seite. Jetzt redete Fujiwara auf Japanisch weiter. Als er fertig war, beugten sich sechs dunkle Köpfe bis zum Boden. Als Akiko wieder aufblickte, sah Ardeth auch in ihren Augen Tränen stehen.
    Er geht weg, dachte sie und schluckte dann. Nein, er geht nicht nur weg. Seine Stimme hallte leise und amüsiert in ihren Ohren nach. Sich selbst töten? Das tut heutzutage niemand mehr. Jedenfalls tat das kein moderner Japaner mehr. Aber er war nicht modern. Er war alt, so alt, dass es ihre kühnsten Vorstellungen überstieg.
    Protest drängte sich auf ihre Lippen, aber sie biss die Zähne zusammen. Was konnte sie sagen? Gehen Sie nicht, weil ich Sie brauche? Aber er hatte keine Antworten für sie, nur die Antworten, die seine lange Existenz in sich einschloss. Gehen Sie nicht, weil ich Sie lieben könnte? Nicht so, wie ich Rossokow liebe, aber wie einen Bruder, wie den älteren Bruder, den ich nie hatte? Jetzt erklang wieder seine Stimme: »Sie werden von vielen Dingen erst dann wissen, dass sie wahr sind, wenn Sie sie selbst leben.« Sie hatte in ihrem Leben einen großen Verlust erlitten – den Tod ihrer Eltern. Jetzt begriff sie, dass der Preis ihrer Existenz mehr war als das Blut. Es war die endlose Folge von Verlusten, die sie von diesem Tag an erleiden würde. Mehr als sich das irgendein Sterblicher vorstellen konnte. Dass der erste Verlust, den sie erlitt, ein Geschöpf ihrer eigenen Art war, war nur eine weitere jener schrecklichen Ironien, die einen so großen Teil des Vampirdaseins auszumachen schienen.
    In ihren Augen standen Tränen, und sie wischte sie mit einer wilden Geste weg. Dann sah sie, dass Rossokow wieder an Fujiwaras Seite niedergekniet war. Der japanische Vampir nahm das längere seiner beiden Schwerter und legte es in Rossokows Hände. Ihre Stimmen waren leise, für den Yakuza, der neben ihr kniete, ohne Zweifel nicht zu hören, aber Ardeth konnte sie deutlich verstehen: »Sie wissen sicher, wie man ein Schwert führt.«
    »Ich habe es nicht vergessen.«
    »Ich werde mein kurzes Schwert dazu benutzen, einmal nach rechts und dann nach oben zu schneiden. Wenn ich damit fertig bin, schlagen Sie mir bitte den Kopf ab. Die Klinge ist eine Muramasa und scharf genug dafür.« Ardeth sah, wie seine Lippen sich verzogen. »Sie lechzt nach Blut.«
    »Bruder, bitte …«
    »Meine Zeit ist gekommen. Ich bin müde. Wie ich dies Leben begann, stand nicht in meiner Wahl, aber dafür kann ich wählen, wie ich es beende. Ich bin dankbar, dass die Traditionen meines Landes ein Ritual anbieten, das für Vampire ebenso endgültig ist wie für Sterbliche. Der Brauch sieht vor, dass der, der einem Krieger am nächsten steht, ihm den Kopf abschlägt. Es würde mir eine Ehre sein, wenn Sie mir behilflich wären.«
    Es dauerte eine Weile, bis Rossokow den Kopf beugte. »Die Ehre ist ganz die meine.« Er stand auf und trat etwas zur Seite, bis er an Fujiwaras rechter Schulter stand. Ardeth sah ihm zu, wie er die Klinge aus der Scheide zog und ihr Heft dann in beiden Händen hielt und ihr Gewicht prüfte. Hinter ihm brannte die Sonne, halb von dem Bergkamm verschlungen. Ihr Licht berührte die hoch erhobene Klinge und ließ sie purpurrot leuchten.
    Fujiwara zog sein zweites Schwert feierlich aus der Scheide und legte die nackte Klinge dann auf die Matte, während er seine Schärpe löste und Brust und Unterleib freilegte. Sein Gesicht blickte gefasst und gelassen, als er dann das Schwert wieder hob. War es so leicht, loszulassen?, fragte sich Ardeth. Nach tausend Jahren des sich Abmühens, am Leben zu bleiben, konnte er sein Leben so einfach aufgeben? Etwas vibrierte entlang ihrer Nerven: ein Frösteln der Angst sowie eine dunkle Welle der Verzweiflung und des Bedauerns. Sie konnte nicht sagen, ob es sein Gefühl oder ihr eigenes war, aber einen Augenblick lang drohte es, sie zu überwältigen. Dann
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