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Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)

Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)

Titel: Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)
Autoren: Anita Shreve
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blassgrünen Polohemd; wie er die Hand auf den Magen drückt und bedauert,
zum Frühstück das Donut gegessen zu haben.
    »Er würde sich freuen, dass du hier bist«, sagt Julie zu ihr.
    »Ach, wenn ich es nur geahnt hätte«, sagt Sydney. »Ich wäre früher gekommen.«
    »Ich hab’s doch gewusst«, ruft Julie. »Ben sagte, nein, aber ich war
ganz sicher, du hättest kommen wollen.«
    »Hast du mal dran gedacht, mich anzurufen?«, fragt Sydney.
    »Gott, Sydney«, entgegnet Julie. »Ich habe dir hundert Briefe geschrieben.«
    An der Arbeitsplatte packt Mrs. Edwards den Schinken und den grünen
Salat ein. Sie legt beides in den Kühlschrank. Sydney spürt leichten Tadel, weil
nicht sie das getan hat. Sie trägt ihren Teller und ihr Glas zum Spülbecken.
    »Du willst sicher nicht dein altes Zimmer«, bemerkt Mrs. Edwards.
    Erstaunt dreht Sydney sich herum. »Oh, ich kann nicht bleiben«, erklärt
sie.
    Obwohl das eben wohl kaum eine Einladung war, scheint Mrs. Edwards verschnupft.
»Ich dachte, du wolltest hier übernachten«, sagt sie.
    »Ach ja, bleib«, bittet Julie.
    Sydney schüttelt den Kopf. »Ich kann nicht.«
    »Aber zum Essen wirst du doch bleiben können«, sagt Mrs. Edwards.
    Sydney sieht zuerst Mrs. Edwards an und dann die junge Frau, die vor
Kurzem ihren Vater verloren hat, und entscheidet: Ja, zum Essen
kann ich bleiben.
    Sydney belädt die Geschirrspülmaschine und hat das Gefühl, ohne es zu
wollen, die von ihr erwartete Rolle übernommen zu haben – ein Mittelding zwischen
Gast und Angestellter. Julie ist nach oben gegangen, um die Sachen aus ihrem Zimmer
zu packen. Hinter Sydney wischt Mrs. Edwards schon wieder die Arbeitsplatte. Sie
muss inzwischen steril sein, denkt Sydney.
    »Ich habe dich nie gemocht«, sagt Mrs. Edwards leise. »Ich kann nichts
anderes behaupten.«
    Sydney hält ein Glas, irgendjemandes Glas, in der Hand. Obwohl sie weiß,
dass die Worte wahr sind, und obwohl ihr die Tatsache nicht neu ist, kann sie nicht
glauben, was sie eben gehört hat. Langsam dreht sie sich nach der Frau um.
    »Es sollte mir wahrscheinlich leidtun«, fährt Mrs. Edwards fort, ohne
Sydney anzusehen, »aber ich kann nicht vorgeben, jemand zu sein, der ich nicht bin.«
Ihre Ärmel sind bis zu den Ellbogen aufgerollt; die Adern an ihren Unterarmen stehen
hervor. »Ich kann nicht behaupten, dass ich nicht froh war, als Jeff – als er das
getan hat. Na ja, froh war ich nicht direkt«, sagt sie, während sie den Lappen,
mit dem sie arbeitet, neu faltet und noch einmal über die Stelle wischt, die sie
eben sauber gemacht hat. »Es war peinlich und ein furchtbarer Schlamassel. Das ist
klar. Aber ich war auch erleichtert. Etwas anderes kann ich nicht sagen.«
    Sydney weiß überhaupt nicht, wie sie auf diese Worte reagieren soll.
    »Ich habe gesehen, wie du gegangen bist«, fährt Mrs. Edwards fort, »und
habe zu mir selbst gesagt: Das wär’s dann. «
    Sydney stellt das Glas hin und trocknet sich die Hände an einem Stück
Küchenkrepp. »Ich glaube, ich gehe jetzt besser«, sagt sie leise.
    »Ach, Herrgott noch mal, jetzt geh doch nicht«, ruft Mrs. Edwards geradeso,
als hätte Sydney gar nichts verstanden. Und erst jetzt sieht die Frau ihr in die
Augen. Vielleicht hat sie dieses Geständnis monatelang geprobt. »Nein, bleib jetzt,
wo du gerade erst gekommen bist. Ben und Julie freuen sich, dass du da bist. Es
war schlimm für sie. Vor allem auch, weil Jeff nicht da ist…« Mrs. Edwards blickt
hastig zur Zimmerdecke hinauf. »Nein, du bist jetzt willkommen«, sagt sie. »So habe
ich das überhaupt nicht gemeint. Ich wollte nur sagen, dass ich weiß, wie ungezogen
ich die ganze Zeit zu dir war, und es ist mir, du weißt schon – es ist schade, das
ist alles.«
    Es ist, findet Sydney, ein furchtbares Geständnis. Sie sucht nach einer
Antwort, die Mrs. Edwards zu erwarten scheint. Das Schweigen zieht sich in die
Länge.
    »Na ja, da weiß man natürlich nicht, was man sagen soll, nicht?«, sagt
Mrs. Edwards. »Ich kann mir denken, dass das alles ein Schock für dich ist. Für
uns ist es das auch, obwohl wir Monate Zeit hatten, uns darauf einzustellen. Aber
das ändert nichts. Es kommt immer zu früh.«
    Mrs. Edwards hört auf mit ihrer Wischerei und lässt die Hand auf der
Arbeitsplatte ruhen. Sie schließt die Augen und verhält den Atem, als wollte sie
einen Schluckauf loswerden. »Er fehlt mir einfach so sehr«, sagt sie. Sie bedeckt
die Augen mit dem Arm, von ihrer Hand hängt das Wischtuch herab.
    Sydney,
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