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Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Titel: Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
Autoren: Julia Franck
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Nur selten sah man noch junge Männer, sie mussten schon vom Erlöser sprechen, womöglich glaubte er daran, an die Erlösung. Was weg war, war weg. Helene musste aufpassen, dass sie nicht ausglitt. Helene hörte Männer hinter sich. Anzügliche Worte, sie ging schneller, sie lief. Bloß nicht umdrehen. Eine Verkleidung wäre gut; die Erde duftete nach Frühling, staubige Nacht im Frühling.
    Sie musste etwas entscheiden, sie ahnte es; nein, es war keine Entscheidung, nur noch den Entschluss, den musste sie fassen. Alle Deutschen waren aufgefordert, die Stadt zu verlassen, hier war nichts mehr, kein Unterricht, kein Fisch für Peter. Wohin ihn schicken? Er würde sich nicht trennen, niemals, nicht freiwillig. Sie hatte keine Zeit für ausgedehnte Reisen, bringen konnte sie ihn nicht, auch wusste sie nicht, wohin. Unter keinen Umständen würde Peter sich schicken lassen. Jeden Vorwand ahnte er, entdeckte jede noch so zarte Fadenscheinigkeit. Dabei hatte sie nichts mehr für ihn, die Worte waren schon lange aus, sie hatte weder Brot noch eine Stunde, ihr blieb gar nichts für das Kind. Helenes Zeit bedeutete Linderung, Linderung für die Kranken, ein bisschen länger leben, ein bisschen schmerzloser. Es pocht eine Sehnsucht an die Welt, an der wir sterben müssen. Warum ihr diese Else immer im Kopf spukte? Nicht sterben, Else, nur erlöschen. Und das war gut so. Helene gab sich den Verletzten und Kranken, die fragten sie nichts; bloß Hand anlegen, das sollte sie, sie konnte das.
    Zu Hause fand sie Peter in ihrem Bett. Er schlief schon. Sie zündete eine Kerze an und legte die Sprotte, die sie in einer Zeitung eingewickelt in ihrer Kitteltasche mitgebracht hatte, auf den Tisch. Er würde sich freuen, eine Sprotte zum Frühstück. Sie nahm den kleinen ochsenblutfarbenen Koffer aus dem Schrank und öffnete ihn. Auf den Boden des Koffers legte sie den Wollstrumpf, gefüllt mit Wilhelms Geld. Darauf zwei Hemdchen, zwei Unterhosen, einen Pullover, den sie ihm erst im Herbst gestrickt hatte. Der Schlafanzug, den er trug, war ihm schon viel zu kurz. Warum musste Peter ausgerechnet jetzt wachsen? Sie würde sich noch in dieser Nacht an die Nähmaschine setzen, die sie nach dem Brand aus der Nachbarwohnung hinüber in ihre geschafft hatte. Sie würde ihm einen neuen Schlafanzug nähen, nichts Aufwendiges, einen ganz einfachen. Stoff dafür gab es. Wozu sonst hatte sie all die Jahre einen Schlafanzug von Wilhelm aufgehoben? Sie legte zwei Paar Strümpfe in den Koffer und sein Lieblingsbuch, in dem er seit Monaten die Geschichten wieder und wieder las, die Sagen des klassischen Altertums. Ohne langes Überlegen schrieb sie auf einen Zettel: Onkel Sehmisch, Gelbensande. Es würde ihn doch geben, jenen Bruder von Wilhelm? Zumindest eine Frau, die auf ihren Mann dort wartete, der bald aus dem Krieg heimkehren würde. Auf dem Land gab es noch etwas zu essen. Sie sollten für Peter sorgen, Wilhelms Geld konnte vielleicht helfen. Sie legte den Zettel mit der Adresse vom Onkel und Peters Geburtsurkunde unter den Geldstrumpf, ganz nach unten, er durfte nicht vorzeitig entdeckt werden. Auch den Fisch sollte Peter bekommen, er sollte ihn in dem Koffer mitnehmen, den aus Horn geschnitzten Fisch. Was sollte sie noch mit dem Fisch? Leontines Brief verbrannte sie in einem Topf auf dem Herd, alle Briefe verbrannte sie jetzt. Sobald sie Stettin verlassen musste, würde sie sich auf den Weg machen und Martha suchen, sie musste Martha finden. Sie spürte genau, dass Martha noch lebte, natürlich lebte sie. Vielleicht war das Arbeitslager ein sicherer Ort gewesen. Ein sicherer Ort zum Leben? Auch Martha war zäh, zäh genug. Wer wusste schon, wohin es sie verschlagen würde? Helene wollte über Greifswald fahren, über Lubmin, ihre Patientinnen brauchten sie. Helene nähte den Schlafanzug für Peter, das gleichmäßige Treten ließ sie ruhiger werden. Es sollte ihm an nichts mangeln, deshalb musste er fort, fort von ihr. Helene weinte nicht, sie war erleichtert. Die Aussicht, dass er es besser haben würde und jemand mit ihm sprechen würde, über dies und jenes und die Sonne am Abend, das machte sie froh. Helene nähte das Bündchen doppelt, und eine kleine Tasche nähte sie in das Oberteil. In die Tasche steckte sie ihren Ehering. Ein wenig Gold, das konnte nicht schaden. Die Tasche nähte sie zu. Sie legte den Schlafanzug zuoberst in den Koffer. Sie durfte ihm nicht sagen, dass es um den Abschied ging. Er würde sie nicht gehen
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