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Die Manon Lescaut von Turdej (German Edition)

Die Manon Lescaut von Turdej (German Edition)

Titel: Die Manon Lescaut von Turdej (German Edition)
Autoren: Wsewolod Petrow
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– mit ihrer Vorgeschichte und mit einem Blick in ihre innere Welt, die vollkommen plausibel erscheint, wenn man von gewissen »Auslassungen« absieht.
    Der Zug fährt von einer Front zur anderen, gerät unter Luftangriffe, kommt mit den Verwundeten zurück ins Hinterland, bereist eigentlich die halbe Sowjetunion, von den ersten Kriegstagen bis zur Zeit nach Stalingrad, der Zeit des kommenden Sieges. Der Zug fährt durch die befreiten Gegenden der Ukraine, kommt ins zu befreiende Polen, kehrt zurück ... Dieser nicht besonders umfangreiche Roman hat eine erstaunliche zeitliche und räumliche Breite vorzuweisen, und auch eine Fülle von Informationen über medizinische, technische, organisatorische Arbeitsweisen eines Spitalzugs. Wir erfahren sehr viel ... mit Ausnahme dessen, was wir nicht erfahren, und gerade diese Auslassungen interessieren uns heute im Unterschied zum sowjetischen Leser von damals, der sie für selbstverständlich hielt. Er wußte, wovon nicht erzählt wurde, war aber geschult, dies nicht zu bemerken.
    Es gibt in diesem Buch keine Fehler der Obrigkeit (geschweige denn Stalins), kein Chaos der ersten Kriegstage, keinen allmächtigen NKWD auf seiner immerwährenden Jagd nach richtigen und falschen Feinden, keine Straflager und Repressalien aus der Vorkriegszeit in den Biographien der Figuren (was in der Realität schier unmöglich war). Es gibt keine Millionen Sowjetbürger, die – wenn nicht alle mit Freude, dann viele mit Hoffnung – die vorrückenden deutschen Truppen in Empfang genommen hatten. [9] Es gibt eigentlich nichts, was dem offiziellen Weltbild widerspräche ...
    Wobei ausgerechnet Wera Panowa diejenige war, die am besten Bescheid wußte. Zu Beginn des Krieges lebte sie mit ihrer Tochter in Puschkin (ehemals Zarskoje Selo, die Zarenresidenz), in einem Schriftstellererholungsheim. Ihre zwei Söhne, ihre Mutter und die Mutter ihres im Straflager gestorbenen Mannes, des 1934 verhafteten Journalisten Boris Wachtin, hielten sich zur selben Zeit in einem ukrainischen Dorf auf, wo die Familie sich 1937 angesiedelt hatte. Rostow am Don, wo sie herstammten, wurde nämlich für sie gefährlich, der
Große Terror
begann. So clever war Wera Panowa, daß sie begriffen hatte, daß man sich retten konnte, indem man den Wohnort änderte, sich in einem kleinen Dorf vor dem NKWD versteckte, der sich zunehmend Verschwörungen ausdachte.
    Im September 1941 marschierten die Deutschen in Puschkin ein, Panowa wurde nach Estland verschleppt, zu irgendwelchen Arbeiten. Es gelang ihr aber, zu entkommen und sich auf den langen Weg zu ihrer Familie in die Ukraine zu machen. Diese erstaunliche Frau kam – mit ihrer kleinen Tochter – durch das zerstörte Land zu ihrer Familie! In jenem entlegenen Dorf warteten sie die Befreiung ab. Wenn jemand eine
reale
Vorstellung vom Leben in der Sowjetunion während des Krieges (und auch vor dem Krieg, in der Zeit der »großen Säuberungen«) hatte, dann war es bestimmt sie, Wera Panowa. Aber davon ist in ihren
Weggefährten
so gut wie nichts zu lesen. Man muß verstehen, daß sie nicht gelogen oder verfälscht hat: Nach den Regeln der Kultur, der sie angehörte, war all das keine »Realität«, die abgebildet werden sollte. Man strebte die »höhere Realität« an, die den Menschen erzieht. Zwar nannte sich der »Sozialistische Realismus« Realismus, war aber eher ein »Sozialistischer Klassizismus«: Ein Autor beschreibt das Leben nicht, wie es ist (genauer gesagt, wie er es selbst gesehen hat), sondern wie es entsprechend der aktuell geltenden Normen sein soll(te).
    Nachdem die Rote Armee die Ukraine zurückerobert hatte, wurde Panowas Familie nach Perm (Ural) evakuiert, wo sie als Journalistin arbeitete und eines Tages den Auftrag bekam, eine populäre Broschüre über die Arbeitsweisen eines Spitalzuges zu verfertigen. Im Jahre 1944 fuhr sie eine Zeitlang in einem solchen Zug mit und sammelte das Material für die Broschüre. Daraus wurde
Weggefährten
.
    In diesem Zug sind alle (fast alle) Besatzungsmitglieder sehr gute Menschen, Patrioten, die nur daran denken, wie sie einen Beitrag für den Sieg leisten können. Kleine menschliche Schwächen ändern daran nichts (etwas übermäßige Liebe zum Alkohol bei einem alten Monteur, die ihn aber nicht daran hindert, technische Wunder zu vollbringen, wenn es um Reparaturen und Verbesserungen des Zuges geht; die Neigung zur Koketterie und Leichtsinnigkeit bei einer Schwester, die natürlich sofort weicht, wenn es um die
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