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Die Macht der Disziplin

Die Macht der Disziplin

Titel: Die Macht der Disziplin
Autoren: Roy Baumeister
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der schmutzigen Socken
    In den siebziger Jahren erforschte der Psychologe Daryl Bem, was gewissenhafte Menschen auszeichnete, und stellte dazu eine Liste von Verhaltensweisen auf. Unter anderem nahm er an, dass es einen Zusammenhang gab zwischen »gibt seine Hausaufgaben rechtzeitig ab« und »trägt frische Socken«, weil seiner Ansicht nach beide auf ein gewisses Maß an Gewissenhaftigkeit schließen ließen. Doch als er diesbezüglich Datenmaterial über seine Studenten an der University of Stanford sammelte, stellte er zu seiner Überraschung fest, dass ein starker umgekehrter Zusammenhang bestand.
    »Offenbar konnten die Studenten nur entweder ihre Hausaufgaben rechtzeitig abgeben oder täglich frische Socken anziehen«, witzelte er. »Beides zusammen war unmöglich.« 32
    Er verschwendete keinen weiteren Gedanken auf das Phänomen, doch einige Jahrzehnte später fragten sich zwei Psychologen, ob hinter dem Witz vielleicht mehr steckte. Die beiden Australier Megan Oaten und Ken Cheng 33 überlegten, ob die Studenten möglicherweise unter derselben Ego-Erschöpfung gelitten haben könnten wie die Teilnehmer des Radieschen-Experiments. Um das herauszufinden, führten sie im Laufe des Semesters mehrere Tests zur Selbstdisziplin ihrer Studenten durch. Wie angenommen, schnitten die Teilnehmer gegenEnde des Semesters immer schlechter ab, vor allem weil ihre Willenskraft in der Zeit vor den Abschlusstests und der Semesterarbeiten extrem geschwächt war. Aber diese Erschöpfung beschränkte sich nicht auf exotische Laborversuche. Als die Forscher sie nach verschiedenen Aspekten ihres Privatlebens befragten, stellten sie fest, dass Bems Geschichte mit den schmutzigen Socken kein Witz war. In der Examensphase schwand die Selbstdisziplin der Studenten rapide, und mit ihr alle möglichen positiven Verhaltensweisen: Sie trieben keinen Sport mehr. Sie rauchten mehr. Sie tranken doppelt so viel Kaffee und Tee. Das zusätzlich Koffein ließe sich vielleicht noch als Lernhilfe deklarieren, aber wenn sie wirklich mehr Zeit über den Büchern verbracht hätten, dann hätten sie eigentlich auch weniger Alkohol zu sich nehmen müssen, aber das war nicht der Fall. Sie gingen zwar während der Examensphase seltener auf Partys, doch blieb ihr Alkoholkonsum unverändert. Sie gaben ihr gesundes Essverhalten auf und steigerten ihren Junkfood-Konsum um 50 Prozent. Was nicht daran lag, dass sie plötzlich zu dem Schluss gekommen wären, Kartoffelchips seien gut fürs Gehirn. Sie machten sich einfach keine Gedanken mehr über ungesunde Ernährung, während sie sich auf ihre Prüfungen konzentrierten. Bei einer Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter riefen sie seltener zurück, sie wuschen nicht mehr ab und wischten nicht mehr auf. Sie putzten sich seltener die Zähne und vergaßen die Zahnseide. Sie duschten und rasierten sich nicht. Ach ja, und schmutzige Socken trugen sie auch.
    Man könnte zu dem Schluss kommen, dass es sich dabei lediglich um eine unbedeutende, möglicherweise etwas ungesunde Verschiebung der Prioritäten gehandelt habe. Vielleicht sparten sie sich ja die Zeit, um mehr büffeln zu können. Aber auch das war nicht der Fall. Während der letzten Wochen des Semesters verbrachten die Studenten nach eigenen Angaben mehr Zeit mit Freunden statt mit Lernen – genau das Gegenteil dessen, was man als praktisch und vernünftig bezeichnen würde. Einige von ihnen gaben sogar an, dass sie vor den Prüfungen weniger lernten, was sicher nicht ihre Absicht war. Siewendeten vermutlich so viel Willenskraft auf, um sich zum Lernen zu zwingen, dass sie am Ende weniger lernten. Sie verschliefen häufiger und tätigten mehr Spontankäufe. So sinnlos eine Einkaufstour in der Prüfungsphase sein mag, die Studenten verfügten über weniger Disziplin, ihren Kaufrausch zu zügeln. Außerdem waren sie schlechter gelaunt, reizbar und neigten zu Zorn und Verzweiflung. Viele schoben ihr Verhalten auf den Prüfungsstress, weil viele irrtümlich der Ansicht waren, Stress verursache diese Verhaltensweisen. In Wirklichkeit schwächt er jedoch die Willenskraft, und das wiederum beeinträchtigt unsere Fähigkeit, diese Emotionen zu beherrschen.
    Die in der Einleitung beschriebene Beeper-Studie, die Baumeister mit einigen deutschen Kollegen durchführte, demonstrierte die Auswirkungen der Ego-Erschöpfung vielleicht noch eindrucksvoller. Über die Aufzeichnungen der Teilnehmer konnten die Wissenschaftler nachvollziehen, wie viel Willenskraft jene über den
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