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Die Lutherverschwörung

Die Lutherverschwörung

Titel: Die Lutherverschwörung
Autoren: Christoph Born
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schon geschossen?
    »Wulf!«, schrie Jost. »Wulf Kramer!«
    An dieser Stelle beendete der Kaiser das Verhör, ohne ein Urteil zu fällen. Jeder im Saal bemerkte, dass ihm die ganze Angelegenheit, der er nur mit Hilfe des Dolmetschers folgen konnte, gehörig auf die Nerven ging. Im Saal entstand große Unruhe und Verwirrung. Es waren auch Spanier anwesend, die Luther laut in ihrer Landessprache verfluchten, während die Anhänger des Reformators ihm zujubelten. Luther, nachdem er zunächst zögerte und nicht wusste, was nun zu tun sei, ging auf den Ausgang zu. Dort stand Georg von Frundsberg. Luther hob die rechte Hand und spreizte alle Finger.
    Georg lachte. »Woher kennst du unser Siegeszeichen?«
    Erst jetzt fuhr Wulf herum. Jost schaute als Erstes auf die Armbrust, der Bolzen war noch nicht abgeschossen; selbst auf die Entfernung sah er, dass es ein eigenartiger Bolzen war; er hatte noch nie einen vergleichbaren gesehen.
    Sie standen still, es war, als habe jemand die Zeit angehalten. Wie Irrlichter sah Jost mehr als zehn Jahre alte Bilder vor sich: den alten Brangenberg, den Pfeil in seinem Hals, wie er stürzt – und nicht erreichbar der Schütze, der so schnell verschwindet, dass er mehr einem Schatten gleicht – Brangenbergs Schatten – Luthers Schatten. Jost hielt die schwere Arkebuse in der rechten Hand, Wulf die Armbrust in beiden Händen, sie war auf den Boden gerichtet, so wie auch die Schusswaffe. Die Arkebuse ließ sich wie die Armbrust nur einmal abfeuern, das Nachladen dauerte ewig.
    Jost und Wulf schauten sich in die Augen. Jost empfand in diesem Moment keinen Hass auf ihn. Er hatte ihn gehasst für das, was er Martha und Anna angetan hatte, aber jetzt, als sie sich in die Augen schauten, empfand er etwas anderes, nur ganz kurz, wie ein Wimpernschlag: Es war das Gefühl, als stehe er seinem Bruder gegenüber. Wulf hatte oft getötet, er selbst hatte oft getötet, und ihm war, als schaue er in sein Ebenbild. Ob Wulf in diesem Augenblick Ähnliches empfand?
    Wulf riss die Armbrust hoch und stützte sie an der Schulter ab, er war unglaublich schnell, presste die Wange gegen die Mittelsäule und zielte auf Jost. Jost handelte wie im Traum. Die Arkebuse schnellte nach oben, schon fasste seine linke Hand den Lauf, der rechte Zeigefinger lag am Abzug. Seit Jahren hatte er keine Arkebuse mehr bedient. Der Lauf befand sich auf Hüfthöhe, und er feuerte blind. Der Rückschlag warf ihn zu Boden.
    Jost sah, wie der Bolzen der Armbrust über ihn hinwegflog. Stehend hätte ihn das Geschoss getroffen, so aber schlug es irgendwo hinter ihm ins Holz ein. Zeitgleich wurde ihm klar, dass auch er sein Ziel verfehlt hatte: Er hatte nicht Wulf getroffen, sondern eines der beiden Fässer, die dort am Fenster standen.
    Plötzlich tat es einen Schlag, als stürzten Himmel und Erde zusammen. Mit einem ohrenbetäubenden Knall zerbarst das Fass. Gelbe, weiße und rote Flammen stoben daraus hervor. Kaum einen Herzschlag später explodierte das zweite Fass. Jost, der den Oberkörper kaum halb aufgerichtet hatte, wurde von der Druckwelle erneut, diesmal noch heftiger, zu Boden geworfen. Er rollte sich schutzsuchend zur Seite, und als er das nächste Mal dorthin schaute, wo noch vor kurzem Wulf gestanden hatte und wo das Fenster gewesen war, sah er die ganze Speicherwand auseinanderfliegen, als sei sie Teil eines Spielzeughauses. Balken und Bretter zersplitterten in tausend Teile. Ziegel sausten wie Geschosse in alle Richtungen. Wo gerade noch die Wand gewesen war und das Dach, klaffte nun ein riesiges Loch.
    Von Wulf Kramer war nichts mehr zu sehen. Die Säcke, die auf den Fässern gelegen hatten, brannten wie Fackeln, flogen teilweise ins Freie, teilweise durch den Kornspeicher. Das Dach fing an verschiedenen Stellen Feuer. Um Himmels Willen, wo war Anna? Im noch verbliebenen Teil des Speichers irrte Jost zwischen den Kornhaufen umher, dann sah er die beiden leblosen Körper. Annas Haare waren blutverschmiert. Immer noch fielen Ziegel vom Dach, und das Feuer kam näher. Jost nahm Anna auf die Arme und eilte die Stufen hinunter.
    Im Treppenhaus herrschte Aufruhr. Eine Frau schrie: »Wie blöd muss ein Mensch eigentlich sein, um Pulverfässer auf dem Speicher zu lagern? Habe ich es dir nicht tausend Mal gesagt?« Und eine Männerstimme gab kleinlaut und winselnd eine unverständliche Antwort. Jost nahm das alles nur wie in einem Fiebertraum wahr. Jemand fasste ihn beim Arm und rief etwas, aber er riss sich sofort los. Er
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