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Die Leiche am Fluß

Die Leiche am Fluß

Titel: Die Leiche am Fluß
Autoren: Colin Dexter
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Messer nicht verlorengegangen war, sondern noch in der Leiche steckte, so daß die so raffiniert erdachten Alibis nicht gefährdet waren.
    «Sie sehen also», schloß Detective Chief Inspector Morse, «daß die beiden Frauen, die aus unserer Sicht Brooks keinesfalls ermordet haben konnten, plötzlich ganz oben auf unserer Liste stehen.» Er lächelte selbstzufrieden in Richtung des Chief Superintendent. «Wenn Sie nichts dagegen haben, Sir, beantragen wir sofort zwei Haftbefehle.»
    «Warum nur zwei?» fragte Detective Chief Inspector Phillotson.

66

    Die Seele ist ein eigener Ort und kann die Hölle zum Himmel und den Himmel zur Hölle machen.
    (John Milton, Das verlorene Paradies, Buch 1)

    Tags darauf stellte die Zentrale einen Anruf von Dr. Basil Shepstone, dem Chefneurologen des Churchill Hospital in Oxford, zu Morse durch («Chief Inspector Morse persönlich, bitte!»), und zwanzig Minuten später saßen sich die beiden in Shepstones Sprechzimmer gegenüber.
    Julia Stevens war mittags in die Klinik eingeliefert worden, die Putzfrau hatte sie bewußtlos vor ihrem Bett gefunden. Mit einem relativ raschen Verfall der geistigen Kräfte hatte man rechnen müssen, aber der dramatische physische Zusammenbruch war überraschend gekommen. Eine Biopsie hatte die vorläufige Diagnose bestätigt: Glioblastom, ein rasch wachsender Hirntumor, maligne, inoperabel, schnell zum Tode führend.
    Eine erste Untersuchung im Krankenhaus hatte ergeben, daß der Tumor Teile des Gehirns gegen den Schädelknochen preßte, was qualvolle Übelkeit, Hörstörungen und Probleme mit der räumlichen Orientierung hervorrief. Trotzdem hatte Mrs. Stevens noch zum Ausdruck bringen können, daß sie mit Chief Inspector Morse von der Kriminalpolizei sprechen wolle.
    Im Verlauf des Nachmittags, berichtete Shepstone, war sie sehr aggressiv geworden, besonders als eine der jungen Schwestern ihr Medikamente verabreichen wollte, aber da mit der Entwicklung eines solchen Tumors häufig eine Persönlichkeitsveränderung einhergeht, war das nichts Außergewöhnliches.
    «Hatten Sie diese Persönlichkeitsveränderung schon zuvor bei ihr bemerkt?» fragte Morse.
    Shepstone zögerte. «Ja, vielleicht. Ich denke... sagen wir es so: Das häufigste Symptom ist eine Aufhebung der Hemmschwelle. Das bedeutet zum Beispiel, daß die Patienten weniger abhängig von den Reaktionen ihrer Mitmenschen — im Falle von Mrs. Stevens ihrer Kollegen — werden, so daß Mrs. Stevens etwa auf Lehrerkonferenzen unerschrockener ihre eigene Meinung vortragen konnte. Ich will nicht sagen, daß sie schüchtern war, aber sie empfand wohl immer — wem von uns ginge das nicht so — gewisse Ängste, gewisse Unsicherheiten...»
    «Eine attraktive Frau, nicht wahr?»
    Shepstone sah Morse scharf an.
    «Ich weiß, worauf Sie hinauswollen. Und die Antwort lautet vermutlich ja. Wenn in den vergangenen Monaten jemand mit ihr... hätte schlafen wollen...»
    «Und heute, sagen Sie, ist sie gewalttätig geworden?»
    «Aggressiv.»
    Morse nickte.
    «Bei solchen Patienten sind nicht so sehr die Verhaltensweisen an sich auffällig, sondern das Unvermutete daran. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine sehr sittenstrenge alte Dame in unserer geriatrischen Abteilung, die einen ähnlichen Tumor hatte und eines Nachts aus dem Bett stieg, um draußen nackt im Springbrunnen zu tanzen.»
    «Aber Julia Stevens ist keine sittenstrenge alte Dame», sagte Morse nachdenklich.
    «Nein», bestätigte der Arzt mit den traurigen Augen. «Nein, sicherlich nicht.»

    Als Julia wieder zu sich kam, war sie zunächst davon überzeugt, daß sie in Wirklichkeit noch immer in ihrem eigenen Bett lag. Irgend jemand wollte sie foppen, wollte ihr vorgaukeln, sie sei im Krankenhaus, und um die Täuschung perfekt zu machen, hatte man ihre in beruhigenden Grüntönen gehaltenen Schlafzimmerwände mit einem harten, grellen Weiß überstrichen.
    Alles war weiß.
    Alle trugen Weiß.
    Nach und nach löste sich ihre Anspannung ein wenig.
    Anfangs hatte sie sich überhaupt nicht mehr zurechtgefunden. Sie wußte nicht einmal, welche Tageszeit, welchen Tag, welchen Monat, ja welches Jahr sie hatten. Und als die junge Frau in dem weißen Kittel sie ansprach, hatte sie jähe Panik erfaßt, denn Julia Stevens konnte sich nicht entsinnen, wer sie war.
    Allmählich war dann manches wiedergekommen. Sie wußte wieder ungefähr über sich und über ihr Leben Bescheid, und darüber hinaus war etwas sehr Erfreuliches geschehen: Die dumpfen,
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