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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition)
Autoren: Michael Roes
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Vermutlich geht es gar nicht anders, als sich zum Glauben zu zwingen! denkt er. Ist es nicht geradezu das Wesen des Glaubens?
    »Früher hatte die ’Ud nur vier Saiten«, fabuliert der Meister.
    »Früher?«, fragt Asis beflissen.
    »In der Zeit des Propheten.«
    »Das ist tausendvierhundert Jahre her!«
    »Das Instrument ist fünfmal so alt!«, erklärt Bilal stolz, als habe er selbst es vor mehr als siebentausend Jahren erfunden. »Erst Ziryab fügte eine fünfte Saite hinzu.«
    »Aber heute hat sie doch zehn Saiten.«
    »Nein, fünf!«, beharrt der Alte. »Jede Saite ist ein Zwilling. Mit ihnen musst du das Stimmen beginnen. Nur wenn die Brüder in absoluter Harmonie schwingen, wirst du das Instrument beherrschen lernen.«
    »Und wie harmonieren die Brüderpaare miteinander?«
    »Das liegt ganz an dir. Jede Region, jede Musikerfamilie, ja jeder Musiker schafft eine eigene, für sie eigentümliche Stimmung. Manchmal stimmt ein guter Spieler sein Instrument sogar für jedes Lied neu, je nach dem, in welcher Farbe es klingen soll.«
    »Also kann ich sie stimmen, wie ich will!«, wirft Asis lächelnd ein.
    »Diese Freiheit, mein Junge«, murmelt der Alte, »ist kein Segen, sie ist ein Fluch!«
    Manchmal aber vergisst Asis das Misstrauen, und die Stimme des Meisters beginnt, ihn fortzutragen, wie die Töne, die er seiner Laute entlockt. Dann ist es nicht die Erzählung, sondern der Rhythmus, der Klang, wie sie erzählt wird, die ihn in die Lügen eintauchen lässt, ohne in ihnen zu ertrinken.
    »Die Wahrheit ist, dass die erste ’Ud bereits von Lamech, dem Urururenkel von Adam gebaut wurde. Vorbild war sein Sohn, der tot in einem Baum hing. Der Wind fuhr durch seine Rippen und erzeugte einen klagenden Ton. Also formte Lamech das Instrument wie den Brustkasten seines Sohnes.«
    »Wieso hing der Junge tot im Baum?«
    »Das weiß ich nicht. Vielleicht war es ein Unfall, vielleicht hat er sich auch selbst aufgehängt. Wen kümmert’s! Den Vater offenbar nicht. Sonst hätte er sich von dem toten Sohn wohl kaum zu diesem Instrument der Freude und des Vergnügens anregen lassen, nicht wahr?«
    Einmal entschlüpft Asis die Frage, wann der Meister denn bete oder die Moschee besuche. Er selber nimmt es mit der Frömmigkeit zwar nicht so genau. Doch ein Mensch wie Bilal ist ihm in seiner Heimat bisher noch nicht begegnet.
    »Nie, wenn ich etwas Wichtigeres zu tun habe«, antwortet der Meister mürrisch.
    Etwas Wichtigeres als das Gebet? fragt sich Asis, ohne seine Frage laut zu stellen.
    »Wenn sie wenigstens sängen, anstatt zu flüstern oder zu schreien!«, fährt Bilal wütend fort. »Sie benehmen sich, als wollten sie gar nicht, dass Gott sie hört! – Nun geh zur Moschee, verrichte dein Gebet und lass mich mit deinen Fragen in Ruhe, Junge!«
    Erleichtert verlässt Asis das dunkle Zimmer, tritt hinaus in den blendendhellen Freitagmorgen und macht sich auf den Weg. Doch erreicht er sein Ziel nicht, wenn sein Ziel denn ein Gotteshaus gewesen ist. Er lässt sich von einigen anderen Moscheeschwänzern verlocken, mit ihnen Fußball zu spielen. Nicht einmal ein schlechtes Gewissen haben sie, im Gegenteil, endlich haben sie die ganze Straße für sich, während die Männer sich zum Gebet in der Moschee versammeln. Und sie spielen voller Dankbarkeit so lange, bis die Straße wieder von Fahrzeugen und Verkaufsständen verstopft ist.
    In dieser Stunde, findet Asis, hätten sie Gott mehr gelobt, als sie es in der Moschee vermocht hätten. Die Musik, die Melodien in seinem Kopf, und auch die vielen freien Stunden, die er bei seinem Meister verbracht hat, haben ihn einsam gemacht. Und er will keinesfalls so werden wie Bilal, ein bitterer alter Mann.
    Dann wieder mag er genau das an seinem Meister, was die meisten anderen Menschen wohl für wenig liebenswert halten würden: Seine schroffe, abweisende Art, die niemand vermuten würde, der ihn nur von seinen öffentlichen Auftritten kennt. Und die Rücksichtslosigkeit, mit der er die Wahrheit sagt, zumindest das, was er für wahr hält!
    »In alter Zeit hat man noch geglaubt, die Laute habe magische Kräfte,« erklärt der Meister ernst. »Man hat sie auf Kriegszüge mitgenommen und während der Schlachten gespielt, um die eigenen Soldaten zu stärken und die Gegner zu schwächen.« Nach einer Pause fügt er lächelnd hinzu: »Heute erklingt sie vor allem auf Hochzeiten, die in den meisten Fällen ja nichts anderes sind als der Beginn des ehelichen Schlachtfelds.«
    »Sie waren nie
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