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Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
Autoren: J.M. Coetzee
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ist im Gang.«
    »Welche Mannschaft unterstützt du?«
    »Natürlich Hafen Novia. Wen sonst?«
    Álvaro scheint guter Laune zu sein, begeistert, sogar ausgelassen. Das freut ihn, er ist auch dankbar, dass er ausgewählt wurde, um ihn zu begleiten. Álvaro scheint ihm ein guter Mann zu sein. Eigentlich scheinen ihm alle Schauermann-Kollegen gute Menschen zu sein: hart arbeitend, freundlich, hilfsbereit.
    In den allerersten Minuten des Spiels macht die Mannschaft in Rot einen simplen Abwehrfehler und Hafen Novia schießt ein Tor. Álvaro reißt die Arme hoch und lässt einen Triumphschrei hören, dann wendet er sich an den Jungen. »Hast du das gesehen, junger Mann? Hast du das gesehen?«
    Der junge Mann hat es nicht gesehen. Da er keine Ahnung vom Fußball hat, kapiert er nicht, dass er auf die Männer achten sollte, die auf dem Spielfeld hin und her laufen, statt auf das Meer an Fremden um sie her.
    Er hebt den Jungen auf seinen Schoß. »Schau mal«, sagt er und zeigt hin, »sie versuchen, den Ball ins Netz zu schießen. Und der Mann da drüben mit den Handschuhen ist der Tormann. Er muss den Ball halten. An jedem Spielfeldende ist ein Tormann. Wenn sie den Ball ins Netz schießen, ist das ein Tor. Die Mannschaft in Blau hat gerade ein Tor geschossen.«
    Der Junge nickt, doch er wirkt mit den Gedanken abwesend.
    Er senkt die Stimme. »Musst du mal auf die Toilette?«
    »Ich habe Hunger«, flüstert der Junge als Antwort.
    »Ich weiß. Ich habe auch Hunger. Wir müssen uns einfach daran gewöhnen. Ich schau mal, ob ich uns ein paar Kartoffelchips zur Halbzeit besorgen kann, oder Erdnüsse. Möchtest du Erdnüsse?«
    Der Junge nickt. »Wann ist Halbzeit?«, fragt er.
    »Bald. Erst müssen die Fußballer noch etwas spielen und versuchen, noch mehr Tore zu schießen. Schau zu.«

Vier
    A ls sie an diesem Abend zu ihrem Zimmer zurückkommen, findet er eine unter die Tür geschobene Notiz vor. Sie kommt von Ana:
Würden Sie und David gern an einem Picknick für Neuankömmlinge teilnehmen? Wir treffen uns morgen zwölf Uhr im Park, beim Springbrunnen.
A .
    Um zwölf Uhr sind sie am Springbrunnen. Es ist schon heiß – sogar die Vögel wirken lethargisch. Weg vom Verkehrslärm lassen sie sich unter einem weit ausladenden Baum nieder. Nach einer Weile kommt Ana mit einem Korb. »Entschuldigung«, sagt sie, »es ist etwas dazwischengekommen.«
    »Wie viele von uns erwarten Sie?«, fragt er.
    »Ich weiß nicht. Vielleicht ein halbes Dutzend. Warten wir es ab.«
    Sie warten. Keiner kommt. »Sieht so aus, als bliebe es bei uns«, sagt Ana schließlich. »Wollen wir anfangen?«
    Es stellt sich heraus, dass der Korb nichts weiter enthält als ein Paket Kräcker, einen Topf ungesalzener Bohnenpaste und eine Flasche Wasser. Aber das Kind verschlingt seinen Anteil ohne Murren.
    Ana gähnt, streckt sich im Gras aus und schließt die Augen.
    »Was haben Sie gestern damit gemeint, als Sie den Ausdruck
reingewaschen
gebraucht haben?«, fragt er sie. »Sie haben gesagt, David und ich sollten uns von alten Beziehungen reinwaschen.«
    Träge schüttelt Ana den Kopf. »Ein andermal«, sagt sie. »Nicht jetzt.«
    In ihrem Tonfall, in dem verschleierten Blick, den sie ihm zuwirft, spürt er eine Einladung. Das halbe Dutzend Gäste, die nicht erschienen sind – waren sie nur erfunden? Wenn das Kind nicht da wäre, würde er sich neben sie ins Gras legen und dann vielleicht seine Hand ganz vorsichtig auf die ihre legen.
    »Nein«, murmelt sie, als könne sie seine Gedanken lesen. Die Andeutung eines Stirnrunzelns huscht über ihr Gesicht. »Nicht das.«
    Nicht das
. Was soll er von dieser jungen Frau halten, erst warm, dann kalt? Gibt es etwas in diesem neuen Land bei den Umgangsformen zwischen den Geschlechtern oder den Generationen, das er nicht versteht?
    Der Junge stupst ihn an und zeigt auf die fast leere Kräckerpackung. Er streicht Paste auf einen Kräcker und reicht es ihm hinüber.
    »Er hat einen gesunden Appetit«, sagt die junge Frau, ohne die Augen zu öffnen.
    »Er hat die ganze Zeit Hunger.«
    »Keine Sorge, er wird sich daran gewöhnen. Kinder gewöhnen sich schnell daran.«
    »An Hunger? Warum sollte er sich an Hunger gewöhnen, wenn es keinen Mangel an Nahrung gibt?«
    »Sich an ein maßvolles Essen gewöhnen, meine ich. Der Hunger ist wie ein Hund im Bauch: je mehr man ihn füttert, desto mehr fordert er.« Sie setzt sich abrupt auf, spricht das Kind an. »Ich höre, dass du nach deiner Mama suchst«, sagt sie. »Vermisst du
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