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Die Kapuzinergruft

Die Kapuzinergruft

Titel: Die Kapuzinergruft
Autoren: Joseph Roth
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in die israelitische Abteilung.
    Ich stand vor dem offenen Grabe. Nachdem der Rabbiner sein Gebet gesprochen hatte, trat Manes Reisiger vor und sagte: »Gott hat ihn gegeben, Gott hat ihn genommen, gelobt sei Sein Name in Ewigkeit. Der Minister hat Blut vergossen, und auch sein Blut wird vergossen werden. Fließen wird es wie ein reißender Strom.« – Man versuchte, Manes Reisiger zurückzuhalten, aber er fuhr fort, mit starker Stimme: »Wer tötet«, so sagte er »wird getötet. Gott ist groß und gerecht.« –
    Hierauf brach er zusammen. Wir führten ihn abseits, indes sein begabter Sohn Ephraim begraben wurde. Er war ein Rebell, er hatte geschossen und war getötet worden.
    Joseph Branco kam noch von Zeit zu Zeit in unser Haus. Er hatte kein anderes Interesse mehr als seine Maroni. Sie waren faul in diesem Jahr, wurmig, und er, Joseph Branco, konnte nur noch gebratene Apfel verkaufen.
    Ich verkaufte das Haus. Ich behielt nur noch die Pension.
    Es war, als hätte der Tod meiner Mutter alle meine Freunde aus unserem Haus vertrieben. Sie zogen fort, einer nach dem anderen. Wir trafen uns nur noch im Café Wimmerl.
    Mein Sohn allein lebte noch für mich. »Wer tötet«, sagte Manes Reisiger, »wird getötet.«
    Ich kümmerte mich nicht mehr um die Welt. Meinen Sohn schickte ich zu meinem Freund Laveraville nach Paris.
    Allein blieb ich, allein, allein, allein.
    Ich ging in die Kapuzinergruft.

XXXIV
    Auch am Freitag erwartete ich sehnsüchtig meinen geliebten Abend, in dem allein ich mich zu Hause fühlte, seitdem ich kein Haus und kein Heim mehr hatte. Ich wartete wohl, wie gewohnt, in seine Obhut einzugehen, die gütiger war bei uns in Wien als die Stille der Nächte, nach dem Schluß der Kaffeehäuser, sobald die Laternen trist wurden, matt von dem unnützen Leuchten. Sie sehnten sich nach dem säumigen Morgen und ihrem eigenen Erlöschen. Ja, müde waren sie immer, übernächtige Lampen, sie wollten den Morgen haben, um einschlafen zu können.
    Ach, ich erinnerte mich oft daran, wie sie die Nächte meiner Jugend durchsilbert hatten, die freundlichen Töchter und Söhne des Himmels, Sonnen und Sterne, freiwillig herabgeschwebt, um die Stadt Wien zu beleuchten. Die Röcke der Mädchen vom Strich in der Kärntner Straße reichten noch bis zu den Knöcheln. Wenn es regnete, rafften diese süßen Geschöpfe die Kleider hoch, und ich sah ihre aufregenden Knöpfelschuhe. Dann trat ich bei Sacher ein, meinen Freund Sternberg zu sehen. In der Loge saß er, immer in der gleichen, und der letzte Gast war er. Ich holte ihn ab. Wir hätten eigentlich zusammen nach Hause gehen sollen, aber jung waren wir, und auch die Nacht war jung (wenn auch schon fortgeschritten), und die Straßenmädchen waren jung, insbesondere die ältlichen, und jung waren die Laternen ...
    Wir gingen also gleichsam durch unsere eigene Jugend und die jugendliche Nacht. Die Häuser, in denen wir wohnten, erschienen uns wie Grüfte oder bestenfalls Asyle. Die nächtlichen Polizisten salutierten uns, Graf Sternberg gab ihnen Zigaretten. Oft patrouillierten wir mit den Wachleuten durch die leere und bleiche Straßenmitte, und manchmal ging eines jener süßen Geschöpfe mit uns und hatte einen ganz anderen Schritt als sonst auf dem gewohnten Trottoir. Damals waren die Laternen seltener und auch bescheidener, aber weil sie jung waren, leuchteten sie stärker, und manche wiegten sich heiter im Winde...
    Später, seitdem ich aus dem Kriege heimgekehrt war, nicht nur gealtert, sondern auch vergreist, waren die Wiener Nächte verrunzelt und verwelkt, ältlichen, dunklen Frauen gleich, und der Abend ging nicht in sie ein wie früher, sondern er wich ihnen aus, erblaßte und entschwand, ehe sie noch angerückt kamen. Man mußte diese Abende, die hurtigen und beinahe furchtsamen, sozusagen fassen, bevor sie zu verschwinden im Begriffe waren, und ich erreichte sie am liebsten in den Parks, im Volksgarten oder im Prater und ihren letzten, süßesten Rest noch in einem Café, in das sie einzusickern pflegten, zart und gelinde, wie ein Geruch.
    Auch an diesem Abend also ging ich ins Café Lindhammer, und ich tat so, als wäre ich keineswegs aufgeregt wie die anderen. Sah ich mich doch seit langem schon, seit der Heimkehr aus dem Krieg, als einen zu Unrecht Lebenden an! Hatte ich mich doch längst schon daran gewöhnt, alle Ereignisse, die von den Zeitungen »historische« genannt werden, mit dem gerechten Blick eines nicht mehr zu dieser Welt Gehörenden zu
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