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Die Jahre mit Laura Diaz

Die Jahre mit Laura Diaz

Titel: Die Jahre mit Laura Diaz
Autoren: Carlos Fuentes
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Graffiti und Symbolen bestand, der Jungfrau von Guadalupe, Emiliano Zapata, der »Calavera Catrina«, jenem berühmten Frauenskelett, Marcos, dem Maskierten von heute, und Zorro, dem Maskierten von gestern, dem Banditen Joaqum Murrieta und dem Missionar Fray Junipero Serra.
    »Sie haben es nicht geschafft, Siqueiros auszulöschen«, sagte ich lachend, während ich langsam dahinrollte, denn ich war überzeugt, daß Autofahren in Los Angeles das gleiche bedeutete, wie »die Stadt im Original zu lesen«.
    »Kannst du dir vorstellen, wie wütend seine Wohltäterin würde, wenn sie sehen könnte, was du und ich gleich sehen?« fragte Enedina. Sie war als dreijähriges Mädchen nach Los Angeles gekommen, zusammen mit ihrem verwitweten Vater, dem Kameramann Jesus Anîbal Pliego, der Lourdes Alfaro de Lopez geheiratet hatte. Beide hatten ihre Partner in Tlatelolco verloren und waren mit Halbwaisen allein geblieben, die Gefährten, Freunde und nun ein Liebespaar geworden sind: Enedina und ich.
    Los Angeles verwandelte sich in ein riesiges mexikanisches Wandgemälde, das sich wie ein bunter Staudamm erhob, damit dieses Kalifornien, das wir drei, das jungen Liebespaar und der alte Gärtner, von den Puente Hills aus überblickten, nicht in einer einzigen letzten Erderschütterung von den Bergen ins Meer glitt. Weggehen. Zurückkehren. Oder zum erstenmal herkommen. Von den Hügeln aus ließ sich der Pazifik erahnen, der sich hinter einem Dunstschleier verbarg, und am Fuß der Berge, unter dem Smog, erstreckte sich die mestizische, vielsprachige Stadt ohne Mittelpunkt, das nomadische Babel, das Konstantinopel am Pazifik, die Region der großen Kontinentalverschiebung ins Nichts.
    Jenseits davon konnte es nichts mehr geben. Hier endete der Kontinent. Er begann in New York, der ersten Stadt, und endete mit Los Angeles, der zweiten und vielleicht letzten Stadt. Es blieb kein Raum mehr zum Erobern. Von hier aus mußte man zum Mond oder nach Nicaragua, zum Mars oder nach Vietnam. Das von den Pionieren eroberte Land war zu Ende, abgeschlossen das Epos der Landnahme, der Besitzgier, der »offenbaren Bestimmung« Nordamerikas, der Philanthropie, jenes Drangs, die Welt zu retten, den übrigen das Recht auf ein eigenes Schicksal zu verweigern und ihnen statt dessen zu ihrem eigenen Besten eine amerikanische Zukunft aufzuzwingen.
    Das alles dachte ich, während ich wie eine Schildkröte auf Straßen vorankroch, die für die Hasen der modernen Welt angelegt waren. Ich sah Asphalt und Beton, aber auch Entwicklung, Aufbau, zum Verkauf angebotene Grundstücke, Tankstellen, Fast-food-Restaurants, Multiplex-Kinos, die Barock mit Rock and Roll vereinende Vielfalt der Großstadt Los Angeles, und trotzdem legten sich im Geist des jungen Fotografen, des Urenkels von Laura Dîaz, der ich bin, andere Bilder über die Erscheinung der Stadt, Bilder, die ihr fremd waren: ein tropischer Fluß, der in einen orkanartigen Schrei mündet, blitzartige Vögel, die über die Urwälder Mexikos fliegen, Staubsterne, die sich in Jahrhunderten auflösen, die Augenblicke sind, eine vernachlässigte, arme Welt und der Tod, der sich die blutigen Hände im tiefen Temazcal von Puerto Escondido wäscht, wo ich von meinem Vater, dem dritten Santiago, und meiner noch lebenden Mutter Lourdes Alfaro gezeugt wurde… ein Wollbaum im Urwald.
    Ich schüttelte den Kopf, um all diese Bilder zu verscheuchen und mich auf mein eigenes Projekt zu konzentrieren, das mich nach Los Angeles zurückgebracht hatte: Ich wollte die impressionistische Flut des kalifornischen Byzanz in einen verständlichen Zusammenhang bringen. Ich bereitete einen Fotoband über die mexikanischen Wandmaler in den Vereinigten Staaten vor und hatte schon Orozcos Wandbilder in Dartmouth und Pomona aufgenommen, in den Docks von New York hatte ich die aus dem Rockefeller Center und der New School verbannten Wandbilder Diego Riveras entdeckt, und nun war ich wieder in Los Angeles, der Stadt, in der ich aufgewachsen war, weil meine Mutter, ihr neuer Mann Jesus Ambal und seine Tochter Enedina im Jahre 1970 Mexiko verließen, als das Land aus einer neuen Wunde blutete, die Tlatelolco hieß. Jetzt, siebzig Jahre nach seiner Entstehung, wollte ich Siqueiros' Wandbild in der Galle Olvera fotografieren.
    »Olvera Street«, rief Enedina mit vorgetäuschtem Ernst. »Das Disneyland der typischen totonakischen Tropen.«
    Mir war aufgefallen, wie hartnäckig die mexikanischen Wandbilder in den Vereinigten Staaten abgelehnt,
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