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Die Indoeuropäer: Herkunft, Sprachen, Kulturen

Die Indoeuropäer: Herkunft, Sprachen, Kulturen

Titel: Die Indoeuropäer: Herkunft, Sprachen, Kulturen
Autoren: Harald Haarmann
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waren die Verbreitung des Ackerbaus und die Migrationen der Indoeuropäer zwei verschiedene Prozesse, die sich unabhängig voneinander entfalteten und in einigen Regionen sogar gegeneinander gerichtet waren.
    Die humangenetische Forschung hat die genetischen Distributionsmuster der europäischen Populationen gegenüber früheren generalisierenden Stellungnahmen präzisiert und ist zu dem Ergebnis gelangt, dass unser genetisches Erbgut zum überwiegenden Teil autochthon ist (Semino et al. 2000, Budja 2005). Diese Feststellungen basieren auf Beobachtungen zur Kontinuität der im Y-Chromosom gespeicherten Erbinformationen, die zu rund 90 % ausschließlich vom männlichen Geschlecht bestimmt werden. Die DNA (dt. DNS = Desoxyribonukleinsäure) des Y-Chromosoms rekombiniert nur zu etwa 10 % mit dem weiblichen X-Chromosom. Der Erhalt der männlichen Erbinformationen ist ein diagnostischer Indikator für die Stabilität von Populationen in Zeit und Raum.
    Für die Populationen in Europa ist ein hohes Maß an Stabilität der DNA des Y-Chromosoms festzustellen, was dafür spricht, dass in den Adern der modernen Europäer überwiegend das Blut ihrer paläolithischen Vorfahren fließt, also nicht das Blut von Einwanderern aus Anatolien (Vonderach 2008: 65ff.). Die Anhänger der Diffusionstheorie stellten sich vor, die indoeuropäischen Migranten aus Anatolien hätten die einheimische Bevölkerung Europas entweder gänzlich verdrängt oder seien mit den Alteuropäern Familienbindungen eingegangen und deren genetische Informationen hätten sich über den Genfluss in den Nachkommen erhalten (s. Renfrew/Boyle 2000 zur Genforschung der 1990er Jahre). Solche Vorstellungen sind inzwischen überholt.
    Die neuerlichen Präzisierungen zur genetischen Erbmasse der Europäer verlangen nun auch nach einer Revision der These von der Ausbreitung des Ackerbaus in Europa. In weiten Teilen Europas verbreitete sich der Pflanzenanbau im Wesentlichen unabhängig von migrierenden Bevölkerungsgruppen (Budja 2007).Die einheimischen Populationen von Jägern und Sammlern, die agrarische Produkte im Tauschhandel kennenlernten, akkulturierten sich im Lauf der Zeit und nahmen selbst nahrungsproduzierende Lebensweisen an (Séfériadès 2007). Dies hatte keinen Einfluss auf ihre Sprachen, sie behielten ihre alteuropäischen (= vorindoeuropäischen) Sprachen bei.
    Selbst wenn sich für das Neolithikum keine Spuren einer weiträumigen Migration aus Westasien nach Südosteuropa nachweisen lassen und die vorindoeuropäische Sprachenwelt bis zum Beginn der Bronzezeit im Wesentlichen intakt blieb, ist dennoch zu fragen, ob es nicht kleinräumige Wanderbewegungen gegeben hat. Die einzige Region, wo eine Einwanderung von außerhalb Europas vorstellbar wäre, ist die Ebene von Thessalien. Möglicherweise sind die dort im 7. Jahrtausend v. Chr. entstehenden Siedlungen (Sesklo, Achilleion, Larissa u.a.) von Ackerbauern gegründet worden, die aus Kleinasien herübergekommen waren (Whittle 1996: 40ff.).
    Es ist viel darüber spekuliert worden, welche Route die Migranten aus Anatolien, die sich in Thessalien niederließen, genommen haben könnten. Am abenteuerlichsten sind Vorstellungen, die Ackerbauern hätten an der Ostküste des Ägäischen Meeres Flöße gebaut und wären damit nach Westen gedriftet, denn mit Ruder- oder Steuertechnik ist für die Zeit des 8. und 7. Jahrtausends v. Chr. kaum zu rechnen. Man fragt sich hier, wie es Ackerbauern einfallen sollte, ihre Habseligkeiten und ihr Vieh (darunter Kühe und Ochsen mit Gewichten zwischen 400 und 700 kg) auf Flöße zu verladen und in See zu stechen. Es ist hingegen sehr wohl denkbar, dass die frühen Migranten über die Landbrücke am Bosporus kamen, die damals noch Europa mit Asien verband (Marler/Haarmann 2006). Erst um 6700 v. Chr. ist sie von der Schwarzmeerflut durchbrochen worden. Die frühesten Spuren von Pflanzenanbau auf europäischem Boden stammen aus Thessalien und datieren in die Zeit um 7000 v. Chr.
    Die einzige größere Migration von Bevölkerungsgruppen, die den Ackerbau verbreiteten, war eine innereuropäische Bewegung, und zwar von den Menschen, die nach den typischen ornamentalenMustern ihrer Keramik (Linearband-Muster) Bandkeramiker genannt werden. Dies waren sehr wahrscheinlich Nachkommen alteuropäischer Jäger und Sammler, die sich akkulturiert hatten und deren Siedlungen expandierten. Ihre Expansionsbewegung wurde offensichtlich von der Klimaerwärmung begünstigt, die um
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