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Die Indoeuropäer: Herkunft, Sprachen, Kulturen

Die Indoeuropäer: Herkunft, Sprachen, Kulturen

Titel: Die Indoeuropäer: Herkunft, Sprachen, Kulturen
Autoren: Harald Haarmann
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verlässliche Informationen verfügbar waren, die eine Rekonstruktion prähistorischer Zustände erlaubt hätten. Zum anderen verharrten die wissenschaftlichenEinzeldisziplinen, die sich an der Erforschung beteiligten, in der Isolation ihrer Fächergrenzen, und das behinderte die Erarbeitung einer Gesamtschau. So findet man noch in den 1980er Jahren ratlose Stellungnahmen zu den indoeuropäischen Ursprüngen «im Dunkel der Jäger- und Sammlerepoche der Geschichte, ohne dass die Sprachforschung nähere Aussagen darüber treffen» könne (Herrmann 1986: 13). Die gewaltige Aufgabe, die Ursprünge und Migrationen indoeuropäischer Populationen sowie die Ausgliederung ihrer Sprachen und Kulturen auszuleuchten, ist kaum anders als in interdisziplinärer Kooperation zu meistern (s. Haarmann 1999, 2009b u.a. zu einer interdisziplinären Europäistik). Dieses Postulat ist allerdings relativ neu angesichts der rund 250 Jahre alten Geschichte der europäischen Sprach- und Kulturforschung. Das Potenzial an Daten, mit denen die Kultur- und Sprachforschung heute umzugehen hat, entstammt der Kontaktlinguistik, der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft, der Archäologie, der Anthropologie, den Geschichts- und Kulturwissenschaften, der Antikenforschung, der Soziologie, der Humangenetik u.a.
    Es ist viel über die Herkunft der Indoeuropäer spekuliert worden. Ihren Ursprung hat man in Europa, Asien und sogar in Afrika gesucht. Ungefähr zehn Theorien zur Urheimat haben Eingang in die wissenschaftliche Forschung gefunden; die meisten von ihnen sind zu einseitig ausgerichtet, greifen zu kurz. Heutzutage werden eigentlich nurmehr zwei Theorien ernsthaft diskutiert. Sie schließen sich gegenseitig aus, und man kann die Aussagekraft der einen nicht verstehen, ohne die andere im Kontrast zu betrachten.
Südrussische Steppe oder Anatolien?
    Nach der älteren Theorie lag die Urheimat der Indoeuropäer in Europa, und zwar in der südrussischen Waldsteppe zwischen Wolga und Don. Dies ist die sogenannte Kurgan-Theorie von Marija Gimbutas aus den 1970er Jahren. Zu den markanten Hinterlassenschaften der frühen Steppennomaden gehören Kammergräber, über denen monumentale Erdhügel aufgeschüttetwurden. Sie werden mit einem aus dem Tatarischen stammenden Wort als Kurgane bezeichnet. Gimbutas identifizierte die Errichter der Erdhügel als frühe indoeuropäische Steppennomaden, und sie sah in der weiten geographischen Verbreitung der Kurgane, die man bis ins Kaukasusvorland und rings um das Schwarze Meer bis nach Südosteuropa findet, Hinweise auf die frühen Wanderwege der Steppennomaden nach Westen und Osten.
    Die andere Theorie, die aus den 1980er Jahren stammende Diffusions-Theorie, sucht die Urheimat in Kleinasien, und zwar in Anatolien. Von dort wanderten laut Colin Renfrew (1987) indoeuropäische Ackerbauern nach Südosteuropa und brachten die Technologie des Pflanzenanbaus nach Europa. Archäologische Spuren früher Siedlungen von Indoeuropäern in Anatolien für das 8. und 7. Jahrtausend v. Chr. gibt es allerdings keine, und es besteht Einigkeit, dass die Kultur der Einwohner von Çatalhöyük, der ältesten Stadt der Region, keine indoeuropäische war. Die Verbreitungsrouten des Ackerbaus in Europa kann man andererseits gut an Hand der Siedlungsplätze verfolgen.
    Renfrews Vorstellungen von der Herkunft der Indoeuropäer formierten sich zu handlichen Thesen über die Gleichgerichtetheit verschiedener elementarer Prozesse. Dies sind (1.) ein ethnischer Prozess (die Migration von Populationen aus Anatolien nach Südosteuropa, und von dort weiter in den Westen), (2.) ein sozioökonomischer Prozess (die Ausbreitung des Ackerbaus von Anatolien nach Europa über die Migrationsrouten, entsprechend einem Wellenmodell, dem
wave of advance model),
(3.) ein humangenetischer Prozess (die Verbreitung bestimmter genetischer Muster –
gene flow –
von Westasien nach Europa). Die Summe der Erkenntnisse aus diesen konvergenten Prozessen ließ scheinbar nur eine Schlussfolgerung zu, nämlich die, dass die Migranten aus Anatolien nicht nur den Ackerbau als Wirtschaftsform, sondern auch ihre Kulturen und Sprachen nach Europa transferiert hätten.
    Renfrews Thesen wurden eifrig verfochten, und das Ideengut von den fortschrittbringenden Indoeuropäern verbreitete sich als neues Paradigma bei Archäologen und Humangenetikern,während die historischen Linguisten weiterhin die ältere Kurgan-Theorie von Marija Gimbutas befürworteten. Demzufolge
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