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Die Himmelsleiter (German Edition)

Die Himmelsleiter (German Edition)

Titel: Die Himmelsleiter (German Edition)
Autoren: Marco Lalli
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tiefen Tal liegen, in das sich der Ticino wie in einem Canyon eingegraben hat. "Wird es Locarno überhaupt noch geben?" Es brauchte nicht viel, um den Gedanken zu vollenden: "Meinst du, es wird in einer Million Jahren noch Menschen geben?" Es war mehr, als so dahingesagt. Ich glaube, ich wollte wirklich wissen, was sie dachte.
    "Wir sollten froh sein, wenn es in hundert oder tausend Jahren noch Menschen gibt." Sie h ätte auch eine Woche oder vierundzwanzig Stunden sagen können. "Wir sollten nicht zu viel verlangen."
    Ich drehte mich um, um sie anzuschauen. Sie war ernst. F ür einen Augenblick meinte ich, sie habe genauso viel Angst wie ich. Und doch gab es etwas in ihren Augen, das zwischen Zuversicht und finsterer Entschlossenheit schwankte, und mir Mut machte. Ich nahm sie in die Arme, als wollte ich sie oder mich selber trösten. Während wir so dastanden, engumschlangen, und sich ihr Busen an meine Brust presste, ich ihren Bauch an dem meinen spürte, machten sich die trüben Gedanken davon wie ein Schwarm Krähen. Ich wusste, sie würden irgendwo da oben kreisen und auf einen günstigen Moment warten, um zurückzukehren. Ich nahm Chloé bei der Hand und zog sie aufs Bett. Vielleicht ging alles zu Ende. Vielleicht machte es keinen Sinn, Kinder in diese Welt zu setzen. Aber schließlich wir würden auch nur so tun, als ob.
    Wir hatten ein wenig ged öst. So wie häufig nach dem Sex, hatte ich in einer friedlichen Welt zwischen Wachsein und Tiefschlaf geweilt. Es war eine Welt flüchtiger Traumbilder, die nicht den Ernst echter Träume hatten. Nichts hatte dort bestand, und doch war es gerade diese Leichtigkeit, die ich liebte, dieses fast unbewusste Fühlen, in dem es keinen Platz für irgendwelche Gedanken gab.
    Drau ßen war es längst dunkel. Der Regen hatte nachgelassen, nur von den Palmen tropfte es rhythmisch hinunter in eine große Pfütze. Die Nachttischlampe brannte, und Chloé saß aufrecht auf ein Kissen gestützt. Mit großen Augen starrte sie ins Leere.
    "Was ist mit dir?" fragte ich erschrocken.
    "Und wenn wir uns irren? Wenn der Erste gar nicht der Tag ist?" Sie sprach langsam, so als müsse sie jedes Wort mühsam formen. "Was, wenn das Ganze nur ein Ablenkungsmanöver ist?"
    Ich brauchte eine Weile, um zu verstehen, auf was sie hinauswollte. Mein Kopf war noch voll Schlaf und schwer wie ein K ürbis.
    Es k önne heute sein, morgen, übermorgen, fast jeder Tag sei jetzt ein guter Tag. Sie habe Angst, sagte sie, und auch ich fühlte ein Kribbeln durch meinen Körper rasen und den letzten Rest Müdigkeit verscheuchen. Wir saßen uns gegenüber, ratlos wie ein Paar, das eine Leiche im Kofferraum seines Wagens entdeckt hat. Dann sprang sie auf, warf mir eine Hose, ein Hemd zu und streifte selbst etwas über. "Komm", drängte sie, "wir müssen anrufen!"
    Vielleicht h ätte mich spätestens diese plötzliche Eingebung nachdenklich stimmen sollen, aber ich war völlig ahnungslos. Ich hatte keinen Verdacht, nicht einmal eine Spur davon. Und selbst wenn ich zu diesem Zeitpunkt mehr gewusst hätte, es hätte an meiner Rolle, an meiner Aufgabe nichts geändert.
    Im Flur gegen über dem Schlüsselregal war eine Art Telefonzelle, ein kleiner Verschlag, in dem ein altmodisches schwarzes Telefon hing. Die Verbindung war schnell hergestellt. Es meldete sich der Schichtführer persönlich. Ich gab mich wieder einmal als Mitarbeiter des Europäischen Instituts aus.
    "Herr Tombay, ich wollte mich noch einmal vergewissern, ob bei Ihnen alles planm äßig läuft." Ich hatte Mühe, meine Stimme unter Kontrolle zu halten. Sie klang seltsam schrill, und ich meinte, dem Schichtleiter müsse das Klappern meiner Zähne auffallen, die in meinem Mund zuckten, als stünde ich unter Strom.
    "U m zwei fahren wir die Anlage wie vorgesehen hoch. Sie können dann ab Viertel vor drei über die abgesprochene Menge verfügen, vielleicht werden es auch ein paar Megawatt mehr." Er redete wie ein Feldherr, der über große Truppenkontingente verfügt und sie mit offensichtlichem Stolz in die Schlacht wirft. Meine Anspannung hatte schon etwas nachgelassen, als er hinzufügte: "Der Verbrauch ist heute eher unterdurchschnittlich."
    Mein Herz machte eine n Sprung, und ich griff nach Chloés Arm, wie ein Ertrinkender nach einem Stück Treibholz. "Sie sprechen von heute Nacht?" Es war schon fast Gewissheit.
    Selbstverst ändlich spreche er von dieser Nacht. Der Termin sei vor einigen Tagen verschoben worden, auf ausdrücklichen Wunsch des
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