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Die Himmelsleiter (German Edition)

Die Himmelsleiter (German Edition)

Titel: Die Himmelsleiter (German Edition)
Autoren: Marco Lalli
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besser als die Tage zuvor. Die Angst hatte nachgelassen, war verblasst. Geblieben war nur eine unterschwellige Unruhe, die ich halbwegs im Griff hatte. Ich bewachte sie wie ein schwelende r Waldbrand, wachsam, weil ich spürte, dass es nur eines Auffrischens des Windes bedurfte, damit es wieder losginge. Aber etwas Zweites kam hinzu, und das machte mir fast noch mehr Sorgen. Ich hatte begonnen, der Selbstverständlichkeit um mich herum zu misstrauen. Es gab Geräusche, die mir fremd erschienen, ein Knirschen oder Rauschen, das Nachhallen von Schritten. Selbst das Ticken der Wanduhr war unheimlich. Es klang wie ein Flüstern, ein Brausen, näherte ich mich ihm in Gedanken. Das Holz der Treppenstufen roch intensiver, aufdringlicher als sonst und verfolgte mich bis ins Zimmer. Alle Empfindungen waren stärker, greller. Sie strömten auf mich ein, als könne ich mich nicht dagegen wehren. Und doch hatte das, was in mich eindrang, nichts Wirkliches. Ich meinte, auf eine dünne Hülle zu blicken, die bei nächster Gelegenheit wie eine spröde Haut aufreißen würde, um die Sicht auf etwas unfassbar Neues freizugeben. Die Welt, die ich kannte, entglitt mir. Ich versuchte, sie festzuhalten, wie eine große, nasse Steinkugel, die einem Stück für Stück unaufhaltsam durch die Finger rutscht.
    Ich stand am Fenster und sah hinaus. Der winzige Balkon gl änzte vor Nässe. Zwischen den Palmen hindurch konnte ich unter mir die Altstadt sehen, weiter rechts die großen Wohnblöcke, die sich von der gelbbraunen Fläche der Felder abhoben. Die Häuser muteten seltsam verlassen an. Nur wenige Lichter brannten. Selten durchpflügte ein Auto die überfluteten Straßen. Der See war spiegelglatt, wie zugefroren. Von der Anlegestelle am Casino hatte eines der Linienschiffe nach Stresa abgelegt. Es entfernte sich in einem weiten Bogen, eine lange Furche wie eine Wunde durch das Wasser ziehend. Aus dem gegenüberliegenden Seeufer erhob sich der Monte Cenere, ein ausladender kegelfömiger Berg, in dessen Gipfel schwere Wolken wie Rauchschwaden hingen. Plötzlich meinte ich, auf einen Vulkan zu blicken, und die weißen Häuschen, die sich zu seinen Füßen drängten, waren nicht mehr die schmucken Dörfer, die wir am Vortag durchquert hatten, sondern die bedrohten Hütten von in ihr Schicksal ergebenen Eingeborenen. Ich dachte an Altomonte. Wie mochte es gewesen sein, dort aufzuwachsen?
    Chloé hatte vor dem Haus gehalten und den Motor abgestellt. über der verschlossenen Tür stand in großen Buchstaben Castelletto al Lago . Und es war tatsächlich ein kleines Schloss: Haupt- und Nebenhaus, eine hohe Mauer, die den weitläufigen Park umschloss, eine ansehnliche Terrasse direkt am See, Anlegestege, ein Spielzeughafen. Das Dach war mit bunt zusammengewürfelten Schindeln bedeckt. Ein Dutzend Kamine, in der Mitte ein verwittertes Türmchen, in dem eine Glocke hing. Wände und Mauer waren terracottafarben, fast rot. Über dem Eingang hing das Familienwappen: ein vergoldeter Adler, der auf einem Berggipfel thront. Daneben ein Fresko, die Muttergottes mit Kind. Der Regen prasselte auf das Autodach. Wir waren nicht ausgestiegen. Es war nur ein Abschied, für sie ein schmerzlicherer, als für mich. Und doch verstand ich, warum sie hier nicht wohnen wollte. Es war kein Haus, es war ein Mausoleum.
    Ich stand immer noch am Fenster. Durch die grauen Regenvorh änge, die von Italien her über den See getrieben wurden, hielt ich nach dem Castelletto Ausschau. Aber es gab zu viele dieser winzigen Punkte am Ufer zwischen Alabardia und Zenna. Chloé war aufgestanden und drückte sich von hinten an mich. Die Arme hatte sie um meinen Bauch geschlungen. Ich spürte die Wärme ihres Körpers auf meinem Rücken. Ihr Kinn lag auf meiner Schulter.
    "Wie f ühlst du dich?" fragte sie besorgt. Sie klang wie eine Trainerin, die sich Sorgen um die Verfassung ihres besten oder einzigen Athleten macht.
    Eine Weile sahen wir beide schweigend durch den Regen hinaus. Von überallher stürzte das Wasser in den See, und ich wunderte mich, dass er nicht überlief. Wie konnte sich dieses zerbrechliche Gleichgewicht von Ab- und Zuflüssen jahrein, jahraus so beständig erhalten?
    "Ich frage mich, wie es hier in einer Million Jahren aussehen wird", sagte ich leise. "Wird es dann noch einen See geben? Wird das Wasser steigen, bis hierher steigen oder noch h öher?" Die Gäste werden vielleicht irgendwann ihre Boote hinten an der Gartenmauer festmachen. Oder Locarno wird in einem
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