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Die Himmelsleiter (German Edition)

Die Himmelsleiter (German Edition)

Titel: Die Himmelsleiter (German Edition)
Autoren: Marco Lalli
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Augen erstanden Welle und Berg in ihrem ewigen Kampf erneut auf. Dazwischen in den Booten die Menschen. Zerbrechlich, aber nicht hilflos, vertrauten sie auf eine höhere Macht. Und der Berg sprach zu ihnen. Als wüssten sie es nicht sowieso schon, versprach er ihnen Schutz. Doch Altomontes Botschaft, der kleine Zettel, der dort klebte, war für mich bestimmt, nicht für sie.
    Hokusais Große Woge war das einzige, was ich aus seiner Hexenküche gerettet hatte. Einem plötzlichen Impuls folgend, war ich drauf und dran, das Plakat zu zerreißen, zu zerknüllen und wegzuschmeißen. Stattdessen rollte ich es wieder zusammen und begann, mich anzuziehen.

EPILOG. DER BERG WACHT
     
    Dr . Moulin hatte seine Lektüre schon geraume Zeit beendet. Nachdem die letzten Zeilen von seinem Bildschirm verschwunden waren, hatte er sich in seinem Ledersessel zurückgelehnt und die Beine auf die Schreibtischplatte gelegt. Dann wartete er, bis der Tag anbrach, der See und die ihn umgebenden Berge sich aus dem Dunst schälten und die Lichter der Stadt, der Höfe und Straßen nach und nach erloschen, als hätte es sie nie gegeben.
    Heilants Geschichte hatte in ihm etwas angeschlagen, das auch mit dem Ende der Lektüre nicht zur Ruhe kommen wollte. Es blieb eine unterschwellige Spannung, eine Unruhe, die mehr umfasste als die verständliche Bestürzung oder Betroffenheit angesichts der geschilderten Ereignisse. Er wurde das Gefühl nicht los, dass dem Deutschen etwas Entscheidendes entgangen war.
    Obwohl Moulin seit vierundzwanzig Stunden auf den Beinen war, f ühlte er sich nicht wirklich müde, eher zerschlagen und auf eine ungesunde Weise überdreht wie nach einer langen Autofahrt. Seine Augen schmerzten vom angestrengten Starren auf dem kleinen Monitor. Ihm schien, als hätten sich die Buchstaben in seine Netzhaut eingebrannt, ein Wust von Linien, Kanten und Ecken, die sich übereinander türmten, ohne irgendetwas Sinnvolles zu ergeben.
    Nach und nach f üllte sich das Haus mit den Geräuschen des Tages. Heute klangen sie fremd in Moulins Ohren. Es war, als sei er von einer langen Reise zurückgekehrt, und er bezweifelte, ob es wieder jemals so sein würde wie zuvor. Und doch bedurfte es nur weniger Schritte, das öffnen einiger Türen, der Gesichter seiner Patienten und Mitarbeiter, um ihn wieder Vertrauen in seine Welt fassen zu lassen.
    Er fr ühstückte, arbeitete ein wenig, unschlüssig, ob er sich den Tag freinehmen sollte, drehte seine übliche Runde durchs Haus, heute langsamer und nachdenklicher als sonst.
    Die Fr ühsommersonne näherte sich ihrem höchsten Punkt, und seine Schützlinge saßen im weitläufigen Garten verstreut auf Stühlen und Bänken. Wie üblich sprachen sie wenig miteinander, taten eigentlich nichts, als seltsam unbeteiligt den Tag verstreichen zu lassen. Einige rauchten. In anderer Kulisse hätten sie Reisende in einem Wartesaal sein können, Reisende, die wissen, dass ihr Zug hoffnungslos verspätet ist. Kaum jemand, der es verstand, seine Welt in Besitz zu nehmen, der wie ein Teil von ihr erschienen wäre. Erst als Moulin selbst auf der Bildfläche erschien, kam etwas Leben auf. Man grüßte ihn, nickte, es wurde gelächelt oder gewunken, und manch einer stand auf, um ihn etwas zu fragen oder ein Anliegen vorzubringen.
    Ein Kopf wurde aus dem Pflegedienstzimmer gestreckt und sein Name gerufen. Dr. Moulin ließ den alten Geßler mit seinen imaginären Milliarden allein. Offenbar wurde er am Telefon verlangt.
    Doch stattdessen erwartete ihn eine Besucherin. Moulin erkannte sie sofort, auch wenn er sie sich nach den Schilderungen des Deutschen beeindruckender vorgestellt hatte, mehr als sch ön, geradezu vollkommen im Zusammenspiel ihrer äußeren und inneren Eigenschaften. Chloé Jamorí war eine schöne Frau, eine sogar außergewöhnlich schöne Frau, aber nicht die fast überirdische Sagengestalt, die er durch die Augen von Thomas Heilant gesehen hatte. Sie war elegant und dem Anlass entsprechend gekleidet, ohne übertriebene Trauer zur Schau zu stellen. Ihr tiefschwarzes Haar war kürzer und modisch frisiert. Auffällig blieb die Sicherheit ihres Auftreten, eine Gewandtheit, die herzlich und ungekünstelt wirkte.
    Ganz anders Moulin. Seine Hand war feucht, als er die ihre dr ückte, und sein Herz klopfte, als ginge es um mehr als um ein kurzes Gespräch mit einer Angehörigen. Er fühlte wie jemand, der nach langen Jahren endlich die vielgedachte Brieffreundin leibhaftig vor sich hat: eine verwirrende
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