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Die Himmelsleiter (German Edition)

Die Himmelsleiter (German Edition)

Titel: Die Himmelsleiter (German Edition)
Autoren: Marco Lalli
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Ruhestätte.
    Ich las gerade die Bänder der Kränze, als eine Stimme hinter mir ertönte. "Herr Heilant?"
    Es klang wie Eilan , und erst einen halben Atemzug später zuckte ich zusammen, als ich mich angesprochen fühlte.
    Ich drehte mich um und mu sste den Blick senken, um überhaupt jemanden zu sehen. Derjenige, der mich angesprochen hatte, mochte knapp Einssechzig groß sein. In der Schweiz, so schien es, hatte ich es mit kleinen Männern zu tun.
    "Mein Beileid", er dr ückte mir die Hand. Tatsächlich hielt er mir nur ein dürres Händchen entgegen, das ich vorsichtig betastete, als umfasste ich eine halb zerfallene Reliquie. Fast meinte ich, seine durchsichtige pergamentartige Haut zwischen meinen Fingern rascheln zu hören.
    Er machte eine tiefe Verbeugung, und sein von sp ärlichem weißen Haar nur notdürftig verhüllter Hinterkopf streckte sich mir entgegen. "Gestatten, Kommissär Montaigne, Kantonspolizei Genf." Er sprach ein passables Deutsch. Auf den ersten Blick hätte ich sein Alter auf Neunzig oder Hundert geschätzt. Das heißt, er sah aus wie jemand, der das für einen Menschen höchstmögliche Alter erreicht hat. Schwer vorstellbar, er könnte in ein paar Wochen oder gar Monaten noch am Leben sein. Wahrscheinlicher war, dass er kurz vor der Pensionierung stand.
    "Herr Heilant, ich w ürde mich gerne ein paar Minuten mit Ihnen unterhalten."
    " Über Altomonte?" fragte ich überflüssigerweise.
    Er l ächelte schüchtern. "Über Altomonte, ja."
    Es hatte aufgeh ört zu regnen, und durch einen langen Riss in der oberen Wolkendecke war die Sonne durchgebrochen. Wenige Gehminuten vom Friedhof entfernt, betraten wir ein Café.
    "S ie waren ein Freund Altomontes." Es war keine Frage, aber doch mehr als eine Feststellung.
    "Ja." Manchmal ist die k ürzeste Antwort nicht die treffendste. So fügte ich hinzu, dies sei aber länger her, als es den Anschein habe.
    "Ich verstehe." Er nestelte eine Packung Zigaretten aus der Tasche seiner hellgrauen Anzugsjacke, z ündete sich eine mit zittriger Hand an, lehnte sich zurück und lächelte selig. An der Rechten trug er einen schweren Goldring mit rotem Stein. Montaigne sog den Rauch tief in die Lungen, und wir schwiegen eine Weile. Aus dem Nebenzimmer schallte das fröhliche Lärmen einer Trauergesellschaft herüber. Er schien alle Zeit der Welt zu haben.
    "Darf ich fragen, warum Sie mich sprechen wollten?"
    Er sah mich erstaunt, fast verständnislos an. "Bitte?" Dann hellte sich seine Miene schlagartig auf, und er schien sich an den Zweck unseres Hierseins zu erinnern. "Natürlich, natürlich. Kommen wir zur Sache."
    "S ehen Sie", der Kommissär legte sein Händchen an die Kaffeetasse, als wollte er es wärmen, "wir wissen sehr wenig über Doktor Altomonte." Ich war mir nicht im Klaren, ob er sich oder die Polizei, die Schweizer im Allgemeinen, vielleicht sogar die Öffentlichkeit im weitesten Sinne meinte. "Verstehen Sie mich nicht falsch, Altomonte war ein berühmter Mann und angesehen dazu. Wir verfügen über jede Menge Informationen, was seine Arbeit, seine Vortragsreisen, seine Tätigkeit in den verschiedenen Gremien angeht." So viel, wie jeder gute Journalist in Erfahrung bringen könne, fügte er hinzu, und ich fühlte mich angesprochen. "Wie aber war er als Mensch? Hatte er Sorgen oder Probleme, hatte er Freunde oder Feinde?"
    "Ich dachte, der Fall sei klar?" Wie hatte Liepman gesagt? Trivial.
    "Es ist unsere Aufgabe, in alle Richtungen zu ermitteln." Er sprach das alle betont vage und ohne Nachdruck aus. "Ich darf Ihnen sogar mitteilen, dass wir zum jetzigen Zeitpunkt ein Fremdverschulden weitestgehend ausschließen können." Trotzdem hätte es mich nicht gewundert, wenn er im gleichen Atemzug nach meinem Alibi gefragt hätte. Stattdessen hielt er sich den Magen und verzog das Gesicht, als habe er Schmerzen. Er bestellte einen Kamillentee.
    "Ich habe ihn seit fast zwei Jahren nicht gesehen. Warum fragen Sie nicht jemand andere n?"
    "Er hatte nicht viele Freunde, wie es scheint."
    "Da können Sie recht haben. Ich glaube, er war in den letzten Jahren ziemlich unerträglich geworden."
    "S ie meinen, er hat sich verändert?"
    Altomonte hatte sich so ver ändert, wie die meisten Menschen sich verändern. Manch eine Eigenschaft war ausgeprägter geworden, hatte an Konturen gewonnen wie die Falten, die zunächst nur angedeutet, später aber wie mit breiter Klinge gearbeitet ein altes Gesicht zerfurchen. Andere hatten sich abgeschwächt und waren von
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